Ein neuer Rechtfertigungsversuch durch den Ratzinger-Papst

Joseph Ratzinger, der als Papst Benedikt XVI. im Jahr 2013 zurücktrat, meldet sich als 92- jähriger von seinem Alterswohnsitz im Vatikan nochmals zurück, um „seine“ Kirche, die er ja durch seine Abdankung eigentlich Papst Franziskus überlassen hat, noch einmal ganz groß zu verteidigen. Die Kirche, so Ratzinger alias Benedikt, sei im Eigentlichen und Entscheidenden gar nicht die Schuldige im Hinblick auf die sexuellen Vergehen ihrer Priester an Jugendlichen, Kindern, Frauen usw.

In Wirklichkeit sei auch sie ein Opfer, nämlich ein Opfer der Revolution von 1968, zu deren Freiheiten, die diese erkämpfen wollte, eben auch „die völlige sexuelle Freiheit gehörte, die keine Normen mehr zuließ.“ Die Gewaltbereitschaft, die mit dieser Revolution in großem Maß verbunden war, habe auch in der Kirche zu einem „seelischen Zusammenbruch“ geführt und viele Priester in ihren Sog mitgerissen.

Die Folgen „für die jungen Menschen in der Kirche“ seien besonders schwerwiegend gewesen. Er, Ratzinger, habe sich immer gefragt, wie junge Menschen in dieser Situation auf das Priestertum zugehen und es mit all seinen Konsequenzen annehmen konnten. Der weitgehende Zusammenbruch des Priesternachwuchses in jenen Jahren und die übergroße Zahl von „Laisierungen“ seien „eine Konsequenz all dieser Vorgänge“ gewesen.

Der ganze Zeitgeist, das gesamte kulturelle Umfeld sei vergiftet gewesen. „Gesundheitsministerin Frau Strobel ließ einen Film machen, in dem zum Zweck der Aufklärung alles, was bisher nicht öffentlich gezeigt werden durfte, einschließlich des Geschlechtsverkehrs, nun vorgeführt wurde. Was zunächst nur für die Aufklärung junger Menschen gedacht war, ist danach wie selbstverständlich als allgemeine Möglichkeit angenommen worden.“ Sex- und Pornofilme seien nun überall, selbst in den Bahnhofskinos, vorgeführt worden. Die von den 68ern verkündete totale sexuelle Freiheit bedeutete nun, dass „auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.“ Die Folge von alledem sei ein „regelrechter Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie“ gewesen, „der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte“. Die Kategorien Gut und Böse hätten in dieser Zeit ihre Bestimmtheit verloren, der Zweck heiligte nun alle Mittel. „So konnte es nun auch nichts schlechthin Gutes und ebenso wenig etwas immer Böses geben, sondern nur relative Wertungen. Es gab nicht mehr das Gute, sondern nur noch das relativ, im Augenblick und von den Umständen abhängige Bessere.“ Führende Theologen konnten sich ebenfalls dem Magnetismus der 68er-Bewegung nicht entziehen und plädierten dafür, dass Fragen der Moral nicht weiterhin „Gegenstand unfehlbarer Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes“ sein könnten.

Ratzinger gibt zwar zu, dass der Auflösungsprozess der christlichen Auffassung von Moral schon lange vorbereitet und im Gange befindlich gewesen sei, aber er habe „in den 60er Jahren eine Radikalität erlebt, wie es sie vorher nicht gegeben hat“! Und diese Auflösung der moralischen Lehrautorität der Kirche habe sich notwendigerweise auf ihre verschiedenen Lebensräume ausgewirkt. Es sei zu einem „weitgehenden Zusammenbruch der bisherigen Form“ der Vorbereitung zum priesterlichen Dienst in den Seminaren gekommen. „In verschiedenen Priesterseminaren bildeten sich homosexuelle Clubs, die mehr oder weniger offen agierten und das Klima in den Seminaren deutlich veränderten. In einem Seminar in Süddeutschland lebten Priesteramtskandidaten und Kandidaten für das Laienamt des Pastoralreferenten zusammen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten waren Seminaristen, verheiratete Pastoralreferenten zum Teil mit Frau und Kind und vereinzelt Pastoralreferenten mit ihren Freundinnen zusammen“. Ein solches Klima im Seminar habe natürlich die Vorbereitung auf den Priesterberuf nicht unterstützen können. Ratzinger will sogar von einem Bischof, der vorher Regens gewesen war, gehört haben, der den Seminaristen Pornofilme vorführen ließ, „angeblich mit der Absicht, sie so widerstandsfähig gegen ein glaubenswidriges Verhalten zu machen“.
Ratzinger, der diese Ausführungen im „Klerusblatt“ veröffentlicht hat, nicht ohne vorher beim vatikanischen Staatssekretär Kardinal Parolin und dem Heiligen Vater selbst die Erlaubnis zur Veröffentlichung eingeholt zu haben, erkennt offenbar gar nicht, in welchem Ausmaß er die Schwäche, Ohnmacht, ja geradezu den Verfall der katholischen Kirche hier beschreibt. Wie muss es um eine Kirche bestellt sein, die dem nihilistischen Zeitgeist nichts, aber auch nichts entgegenzusetzen hat, die, wenn sie schon nicht die weltliche Öffentlichkeit zum Besseren verändern kann, nicht wenigstens die innere Charakterstärke besitzt, um wenigstens den Priesteramtskandidaten eine pädagogisch und moralisch hochwertige Ausbildung angedeihen zu lassen.

Als pädagogisch-moralisches Gegenmittel gegen den Zeitgeist fällt ihm lediglich ein, Gott und das „Sakrament der Gegenwart von Leib und Blut Christi, die Gegenwart seiner Person, seines Leidens, Sterbens und Auferstehens wieder in die Mitte des christlichen Lebens und der Existenz der Kirche zu rücken“.

Aber genau damit kann er doch junge Menschen in einem erotisch-sexuell aufgeladen Umfeld und in der Entscheidungssituation zwischen Trieb und Geist nicht überzeugen und echt motivieren. Halten doch selbst katholische und evangelische Theologen die Auferstehung Jesu nur noch für ein Symbol, dafür, dass die Sache Jesu weiter geht, und nicht für die Realität eines wieder lebendig geworden Leichnams. Und wenn Ratzinger alias Benedikt die „reale Anwesenheit“ Jesu in der Eucharistiefeier als stärkendes Motiv für die Einhaltung der Keuschheit durch die Priesteramtskandidaten vorbringt, dann widerlegt er sich im nächsten Atemzug selbst, indem er eine Ministrantin erwähnt, die von ihrem Kaplan, bei dem sie den Altardienst leistete, immer wieder sexuell missbraucht wurde, was der aber immer mit den Worten einleitete: „Das ist mein Leib, der für dich hingegeben wird“, also mit den Konsekrationsworten, die der Priester in der hl. Messe auf deren Höhepunkt spricht, um die Hostie in den Leib Christi zu verwandeln. „Dass diese Frau die Wandlungsworte nicht mehr anhören kann, ohne die ganze Qual des Missbrauchs erschreckend in sich selbst zu spüren, ist offenkundig. Ja, wir müssen den Herrn dringend um Vergebung anflehen und vor allem ihn beschwören und bitten, dass er uns alle neu die Größe seines Leidens, seines Opfers zu verstehen lehre. Und wir müssen alles tun, um das Geschenk der heiligen Eucharistie vor Missbrauch zu schützen“. Wie schnell der hohe Herr vom Leiden dieser jungen Frau schon wieder zum Leiden und Opferstatus Jesu überspringt! Und ob er der so gedemütigten und verletzten Frau wenigstens eine finanzielle Entschädigung aus seinem wohlgefüllten Geldbeutel zukommen ließ, steht auch in den Sternen.

Eines steht jedenfalls fest: Ratzinger alias Papa emeritus Benedictus hat auch wieder, wie alle seine Vorgänger dies schon immer getan haben, das Möglichste getan, um die Schuld für den Missbrauch unschuldiger Menschen durch Priester der Kirche weit von dieser weg- und auf andere zu schieben, in diesem Fall auf die 68er. Aber wie man diese auch und besonders in Bezug auf die Liberalisierung der Sexualmoral be- oder verurteilen mag, der priesterliche Missbrauch von Unschuldigen zieht sich durch alle Jahrhunderte der Kirche und hängt auch mit deren Zölibatsgesetz als aufoktroyierter Sexualrepression zusammen, ist also insofern ein von der 68er-Bewegung unabhängiges Gewächs!

Literatur zum Umkreis dieses Artikels:
Hubertus Mynarek, Herren und Knechte der Kirche, 3. Auflage Freiburg 2010 (Ahriman-Verlag);
Hubertus Mynarek, Eros und Klerus, 1. Auflage Düsseldorf 1978 (Econ), drei Taschenbuch-Auflagen im Droemer-Knaur-Verlag, Neuauflage 2018 Alsdorf (NIBE);
Hubertus Mynarek, Casanovas in Schwarz, 2. Auflage Essen 2005 (Die Blaue Eule);
Hubertus Mynarek, Warum auch H. Küng die Kirche nicht retten kann, Marburg 2012 (Tectum im Nomos Verlag);
Hubertus Mynarek, Der polnische Papst – Bilanz eines Pontifikats, Freiburg 2005 (Ahriman Verlag);
Hubertus Mynarek, Papst-Entzauberung, Norderstedt 2007 (BoD);
Hubertus Mynarek, Papst Franziskus – Die kritische Biografie, Marburg 2015 (Tectum im Nomos Verlag);
Hubertus Mynarek, Die neue Inquisition, Neuauflage Alsdorf 2018 (NIBE).

Erscheinungsdatum: 15.05.2019