Erklärung zum neu erschienenen Buch von Hubertus Mynarek

In diesem Buch wird auf 400 Seiten eine imponierende Phalanx großer Denker und Wissenschaftler vorgestellt, die den Beweis liefern, dass der Mensch nicht nur ein materielles, in den Grenzen von Raum und Zeit eingeschlossenes, durch die Zwänge von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Banken hoffnungslos versklavtes Wesen ist, sondern eine Potenz, einen nach Entdeckung und Erweckung rufenden Schatz in seinem Innersten trägt, mit dessen Kraft er alles Begrenzende, Beengende, Herunterdrückende, sein Wesen Schmälernde überschreiten, eben transzendieren und ins Unendliche und Ewige vorstoßen kann.
Ganz in diesem Sinn antwortete deshalb auch Deutschlands bekanntester Hirnforscher, Wolf Singer, auf die Frage, warum er kein Atheist ist, mit der Aussage: „Denn ich weiß natürlich, dass es jenseits des Begreifbaren noch unbegreifbare Dimensionen gibt, für die ich keinen Namen habe. Ich lebe mit der Gewissheit, dass das, was sich uns erschließt, nur ein Teil von etwas Größerem, nicht Erfassbarem ist“.

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Einleitung

Was ist mit »Transzendenz« gemeint?

Der Begriff Transzendenz ist höchst umstritten. Man kann zwar so manchem Atheisten nicht verdenken, wenn er beim Hören dieses Wortes sofort ein unangenehmes Gefühl verspürt. Sagen doch viele Theologen der beiden Großkirchen heutzutage viel lieber Transzendenz als Gott, dessen Name so häufig gebraucht, verbraucht und missbraucht wurde. Transzendenz klingt da eleganter und philosophischer, meint aber bei diesen Theologen genau das Gleiche wie das Wort Gott, d.h. den Gott des Christentums, des Islams und des Judentums, evtl. noch weiterer monotheistischer Religionen.

Alle Ausführungen dieses Buches werden jedoch zeigen, dass hier das Wort „Transzendenz“ in einem anderen Sinn verwendet wird, nämlich in einem dynamischen, nicht ontologischen oder substantiellen, also Gott, Götter oder Geister eben nicht voraussetzenden. Transzendenz bedeutet hier vor allem Transzendieren, eine Grenze überschreiten, nämlich die Grenze des Vordergründigen, Vorläufigen, Profan-Alltäglichen, Verfügbaren, des Scheins, des uns nur bedingt Angehenden, des möglicherweise aus vielerlei Gründen lnteressanten, letzten Endes aber doch Belanglosen.

Bei einem solchen Verständnis von Transzendenz ist ein Tiefen-Humanist (im Unterschied zu einem oberflächlichen), also ein Transzendenz-Humanist auch jener Atheist, der unsere unmittelbar erfahrbare Wirklichkeit gedanklich überschritten und das Problem eines allem Erfahrbaren zugrunde liegenden Seins zwar als existentielle Frage gesichtet, in den Blick bekommen hat, aber nach reiflicher, verantwortlicher Überlegung ein solches Sein ablehnt. Selbst der Nihilist ist in diesem Sinn ein „Transzendenz-Humanist“, soweit er auf das Problem eines tragenden Urgrundes aller Wirklichkeit zwar gestoßen ist, es jedoch letztlich auf Grund ihm seriös und verantwortbar erscheinender Argumente als Scheinproblem und diesen Urgrund als reines Nichts durchschaut zu haben glaubt.

Wie gesagt, es geht nicht primär um das Ja oder Nein zur Existenz eines Urgrunds alles Seienden. Die Frage nach ihm kann positiv oder negativ beantwortet werden, das Nein kann in manchen Fällen existentiell sogar wahrhaftiger, echter, edler sein als das Ja. Wichtig ist nur, dass durch den Prozess des Transzendierens eine höhere Ebene des Bewusstseins, eine neue Dimension eröffnet und erreicht ist, die eine radikale Grenzüberschreitung markiert, nämlich den Durchbruch durch die Fassade unseres Normal-, Schein-, Durchschnittsbewusstseins, der Maya, buddhistisch gesprochen.

Ich gebe zu, dass ich ziemlich lange dem Irrtum anhing, schon dieser Akt des Transzendierens sei ein religiöser Akt. Genau das ist er in Wirklichkeit natürlich nicht. Es ist ein philosophischer Akt, die Denkhaltung eines Philosophen, der bei einem rein positivistischen Denken nicht stehen bleiben will und sich vor das Problem der Möglichkeit von Meta-Physik gestellt sieht. Selbst wenn er am Ende diese Möglichkeit negiert, hat doch sein Bewusstsein eine Ebene betreten, die nicht mehr mit einer positivistischen, nur sinnliches Erkennen und dessen Folgerungen akzeptierenden Haltung glatt vereinbar ist.

Aber das meine ich schon, dass ein wahrer, echter, vollgültiger und vollinhaltlicher Humanismus ein Tiefen-, ein Transzendenz-Humanismus sein muss, einer, der den Akt des Transzendierens vollzieht, auch wenn ein solcher Humanist letztendlich Atheist oder Agnostiker bleiben sollte, weil er glaubt, eine vernünftige, ethisch verantwortbare Entscheidung getroffen zu haben.
Wenn wir Transzendenz in diesem weit gefassten Sinne verstehen, ergibt sich eine große Vielfalt weltanschaulicher Bedeutungen, die sich ganz legitim mit dem Oberbegriff »Transzendenz« verbinden lassen. Die folgenden Aussagen und Urteile prominenter Denker der Moderne und Postmoderne werden den faszinierenden Reichtum der diversen Aufstiege aus der Immanenz in die Transzendenz illustrieren.


Ausklang

Agnostizismus und Transzendenz

(darin ein Gespräch mit Sabine Hossenfelder über Grenzen und Aporien der modernen Physik)

Mit Agnostiker bzw. Agnostizismus (lat. agnosco = ich weiß nicht, ich erkenne nicht, griech. â-gnôscô) ist eine philosophische Haltung gemeint, mit der ein Denker zum Ausdruck bringen will, dass er in weltanschaulichen Fragen keine endgültige Entscheidung und Aussage machen möchte, weil er der Überzeugung ist, dass ihm dazu das umfassende Wissen fehlt. Er kann seinen Standpunkt sogar noch ausweiten bzw. verallgemeinern, indem er behauptet, das betreffe alle Menschen, sie seien allesamt nicht in der Lage, letzte weltanschauliche Antworten auf die Rätsel der Wirklichkeit und des eigenen Daseins zu geben, weil ihnen dazu die fundamentalste Voraussetzung, nämlich ein alles umfassendes Wissen fehle.

Auf derselben Grundlage kann man aber demzufolge begründeterweise behaupten, dass ein ehrlicher Agnostiker auch immer metaphysikoffen sein müsste, weil er ja stets mit dem Zufluss neuen Wissens rechnen muss, damit aber auch mit dem Auftauchen neuer Möglichkeiten und Varianten der Transzendenz.

Auch ein Atheist, der diskussionsfähig und offen ist, müsste redlicherweise in Wirklichkeit Agnostiker sein, indem er sich bewusst macht, dass man jene Varianten der Transzendenz wie Gott, Götter, Engel usw. zwar nicht beweisen kann (die Beweismittel könnten ja nur aus unserer sinnlich-diesseitigen Erfahrungswelt kommen), dass man aber auch für deren Nichtexistenz keine Beweise erbringen kann. Wer von der Natur, vom Universum, von der Evolution ausgeht, der kann zwar auf dem naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Weg Gottes Realexistenz ebenfalls nicht beweisen, er kann sich aber um gewichtige Hinweise nicht herumdrücken, die aus diesem Bereich stammen und auf eine unerhörte, menschliches Maß weit überschreitende Intelligenz hindeuten.

An dieser Stelle meiner Ausführungen wird vielleicht mancher Atheist ein ironisches Lächeln aufsetzen. Schließlich ist sein großer Gewährsmann doch Dawkins, und der kommt von der Evolutionsbiologie her. Wenn der also sagt, die Natur enthalte keinerlei Hinweise auf eine irgendwie geartete Transzendenz, dann müsse das doch stimmen. Freilich sind viele Atheisten noch etwas päpstlicher als Atheistenpapst Dawkins, der immerhin schon mehrfach betont hat, er sei zu 90 Prozent überzeugt, dass es Gott nicht gibt. Die gegenteilige Wahrscheinlichkeit, nämlich, dass er existiert, betrage allerhöchstens 10 Prozent.

Ich vermute, dass Dawkins seriöserweise deshalb von diesen zehn Prozent spricht, weil er das Gesamtphänomen Evolution doch nicht exklusiv atheistisch vereinnahmen kann. Auf den ersten Blick scheint es allerdings so: Mutation, Selektion und all die anderen Mechanismen der Evolution sehen so aus, als ob sie völlig ohne irgendeine Art von transzendenter Ursächlichkeit auskommen. Aber der Schein trügt, denn die Anfangsbedingungen der Evolution sind ja durch sie selbst nicht mehr erklärbar, sie sind ihr vorgegeben. Dass die vier Grundkonstanten der Natur (die Gravitationskraft, die elektromagnetische Kraft, die starke und die schwache Kernkraft) ganz präzis aufeinander abgestimmt sind, dass sie in feinstens ausgeklügelten Zahlenverhältnissen zueinander stehen, so dass schon relativ kleine Veränderungen dieser Verhältnisse unser Universum nicht hätten entstehen lassen bzw. es sehr bald wieder zerstört hätten, das passt nicht in das Dogma der totalen rationalen Erklärbarkeit der Welt (vgl. H. Mynarek, Die Vernunft des Universums, Essen 2003, 2. Auflage, 155 ff), ebensowenig wie die der Evolution vorausgehende und sie ermöglichende Einbettung unseres Planeten in die Energieströme des Universums (ebd. 160ff). Das Gleiche gilt von der „Affinität der Stoffe“, das heißt, dass sich die chemischen Elemente nicht einfach beliebig oder willkürlich, sondern nur nach ganz bestimmten Wertigkeiten und Zahlenverhältnissen miteinander verbinden. Das aber war die Voraussetzung für die makromolekulare Evolution!

Die Evolution kann auch nicht erklären, sondern setzt voraus, dass es Fortpflanzung, Generationenfolge und Vererbung gibt. Evolution als Phänomen aufsteigender Arten und neuer Baupläne steht zwar zweifelsfrei fest, aber die (neo-)darwinistische Interpretation mit ihrem Kausalinstrumentarium reicht nicht zur Erklärung dieser Höherentwicklung. Durch willkürliche Mutationen und deren Selektion ist noch keine einzige neue Art entstanden. Die Paläontologie, die Lehre von den Fossilien, liefert keineswegs die vielen Übergangsformen, die bei den neodarwinistisch vorausgesetzten Mikromutationen hätten entstehen müssen, bis es zu einer neuen Art kommen konnte. Auch die Erklärungen der Neodarwinisten für die Entstehung komplexer Organe und der damit verbundenen langwierigen Prozesse sind zu simpel.

Nun behaupte ich mit alledem natürlich nicht, die Existenz Gottes als des Planers des Kosmos und der Evolution bewiesen zu haben. Der Atheist kann durchaus mit Jacques Monod, Nobelpreisträger in Biologie, entgegnen, diese Anfangsbedingungen des Universums und der Evolution seien zwar extrem unwahrscheinlich ohne eine sie verursachende Intelligenz, aber sie könnten trotzdem Zufall sein. Als völlig unmöglich kann man den Zufall in diesem Zusammenhang nicht absolut ausschließen. Aber auf jeden Fall ist auch die Evolution, auf die sich momentan die Atheisten im Gefolge von Dawkins besonders eifrig und gern berufen, kein Beweis für die Nichtexistenz eines vom Menschen unabhängigen superintelligenten Geistes.

Aber es bedarf nicht einmal des umfassenden Studiums der Evolution. Schon die genauere Kenntnis eines vermeintlich mickrigen Einzellers beweist seine haushohe Überlegenheit über die modernste chemische Fabrik, so dass jeder, der das erkannt hat, von der Versuchung befreit ist, sich als Gott zu empfinden. Hätte doch unsere Intelligenz niemals ausgereicht, um ein so genial strukturiertes Universum zu erfinden. Der wohl genialste Geist unter den theoretischen Physikern, Albert Einstein, hat das in tiefster Bescheidenheit zugegeben: „Für mich ist das Leben der Inbegriff all der Erscheinungen, von denen jeder sieht, dass er das Wesentliche davon nicht begreift. Beim Anorganischen merkt man es nur nach langem, tiefem Studium. Man hat zwar prächtige Begriffe ersonnen und damit scheinbar alles im Prinzip verstanden. Aber es kommt der Augenblick, in dem man sieht, dass alles unzureichend ist. Beim Lebendigen liegt die Oberflächlichkeit unseres Begreifens offen zutage. Daran kann nur einer zweifeln, der überhaupt nie etwas tiefer begriffen hat. Kurz, man wird zum tief religiösen Ungläubigen.“

Für Einstein ist die „hochgradige Ordnung der objektiven Welt“ ein „Wunder“, weil man doch in einem Universum ohne intelligenten Geist als Anfangsstadium „eine chaotische Welt erwarten sollte, die durch Denken in keiner Weise fassbar ist“. Dieses Wunder „verstärkt sich mit der Entwicklung unserer Kenntnisse nur immer mehr. Hier liegt der schwache Punkt für die Positivisten und die berufsmäßigen Atheisten, die sich beglückt fühlen durch das Bewusstsein, die Welt erfolgreich nicht nur entgöttert, sondern sogar ‚entwundert‘ zu haben. Das Schöne ist, dass wir uns mit der Anerkennung des ‚Wunders‘ bescheiden müssen, ohne dass es einen legitimen Weg darüber hinaus gäbe“.

Aber es ist ja nicht Einstein allein. Alle Begründer und Vertreter der modernen Physik (Planck, Heisenberg, Niels Bohr, Eddington, Schrödinger usw.) haben – jeder freilich auf andere Weise – einen Weg von der Physik zur Metaphysik gefunden bzw. gebahnt (s. H. P. Dürr, Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik, der das Buch „Physik und Transzendenz“ herausgegeben hat, in dem jede dieser Koryphäen mit einem Kapitel authentischer eigener Aussagen diesen Weg zur Transzendenz beschreibt).

Wohlgemerkt: Diese Transzendenz muss keineswegs der persönliche Gott des Christentums, Islams, Judentums sein. Möglich wäre auch eine den Dingen innewohnende, also immanente Intelligenz, die trotzdem in dialektischer Zuordnung dazu weltumgreifend und -übergreifend wäre. Einstein beispielsweise hat sich ausdrücklich zum pantheistischen Gott Spinozas (Gott = Natur) bekannt und den Gott des Theismus abgelehnt. (Näheres bei Mynarek, „Ökologische Religion“, Goldmann TB, München).

Wie dem auch sei, wer die Transzendenz total negiert, wie immer diese auch geartet sei, ob man sie Gott, das Sein, den Seinsgrund, Karma als ausgleichende Schicksalsgerechtigkeit, Nirvana, Brahma, Tao oder wie immer nennt, wer sie nicht einmal als Möglichkeit in Betracht zieht, der beschneidet sein Menschsein, der gerät ständig in Gefahr, die Transzendenz unbewusst in seine brüchige, kontingente Immanenz, auf sein Niveau herunterzuholen und sich damit selbst zu vergöttlichen. Echte, volle Humanität besteht gerade in der zu respektierenden Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz, existiert in der Spannung zwischen diesen beiden Polen.

Wer apodiktisch erklärt, es gebe keinerlei Art von Transzendenz, keine letzte Geheimnishaftigkeit des Seins, keine unlösbare letzte Rätselhaftigkeit der Wirklichkeit, der ist kein Philosoph, sondern ein Bekennender, „Konfessioneller“, der ist im Endeffekt ein Fanatiker, weil er nicht alle Möglichkeiten des Denkens berücksichtigt und in sich zulässt.

Es spricht nicht wenig für die Existenz eines Seins, das alles Seiende aus sich entlassen hat. Aber es spricht auch einiges dagegen. Der Sprung des Glaubens – sowohl zum Glauben an Gott als auch zum Glauben an den Atheismus – ist unvermeidbar. Nur der Agnostiker kann sich ihn ersparen.

Zum Schluss noch einige Richtigstellungen: Es klingt zwar aus dem Mund eines Atheisten sehr überzeugend, entspricht auch der gängigen Meinung, ist aber trotzdem falsch, wenn er behauptet: „Gäbe es Gott nicht, gäbe es keine Religionen, keine Kirchen, keinen Glauben an eine Weiterexistenz nach dem Tod ...“ Er scheint noch nie etwas von einer atheistischen Form der Religion wie dem Hinayana-Buddhismus oder dem Taoismus gehört zu haben, noch nichts von den vielen Formen einer „Religiosität ohne Gott“ (Vgl. mein gleichnamiges, auf Umfragen basierendes Buch). Er scheint doch noch mehr in der Tradition zu stecken als ihm bewusst ist, denn es sind die beiden christlichen Großkirchen, die Religion derart auf den Glauben an einen Gott festgelegt haben, dass andere Religionen mit anderen; keineswegs theistischen Inhalten gar nicht ins Blickfeld der Gläubigen gelangen.

Ganz falsch ist es auch, den Glauben an ein Fortleben nach dem Tod unbedingt vom Glauben an Gott abhängig zu machen. Wie immer die Evolution mit ihren Um- und Irrwegen verlaufen ist, sie hat auf unserem Planeten immer höheres Bewusstsein hervorgebracht, bis hin zum Selbst-Bewusstsein, zum geistigen Bewusstsein des Menschen. Wieso sollte es nicht möglich sein, dass die Evolution in einer anderen Dimension weitergeht, dass dieses bei vielen Menschen hier immer noch sehr rudimentäre Bewusstsein sich in einer anderen Sphäre weiter- und höherentwickelt. Wenn dem so sein sollte, dann hängt das Weiterleben nur von diesem Bewusstsein, seinem Vorhandensein, nicht von Gott ab (vgl. H. Mynarek, „Jenseits der Todesschwelle“, Alsdorf 2018).
Schließlich ist ja auch die Idee der Unsterblichkeit der Seele ursprünglich nicht auf jüdisch-christlichem, sondern „heidnischem“ Boden, im antiken Ägypten und Griechenland entstanden. Judentum und Christentum glaubten ursprünglich nur an den Tod des ganzen Menschen, der dann beim Jüngsten Gericht auch von Gott ganz auferweckt werde.

Gerade Atheisten fällt es besonders schwer, die Haltung des ehrlichen Agnostikers zu verstehen und zu respektieren. Die meisten von ihnen halten sich für Aufgeklärte, die mit den Entdeckungen und Ergebnissen der exakten Wissenschaft, insbesondere der mathematikbasierten Naturwissenschaft, total vertraut und konform seien! Religiöse Menschen, Denker, die die Disziplin Metaphysik innerhalb des Lehrbereiches Philosophie noch für einen behandelnswerten Zweig derselben halten, aber selbst Agnostiker, die die Möglichkeit irgendeiner Art von Transzendenz vertreten, werden als unaufgeklärt, nicht auf dem neuesten Stand der Forschung stehend, hinter deren Fortschritten hinterherhinkend empfunden oder sogar verachtet.

Dabei zeigt sich bei eingehender Prüfung, ja oft sogar schon bei genauerem Hinsehen, dass die Mehrheit dieser Aufgeklärten nur ein sehr oberflächliches Wissen von den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen hat und meistens nur etwas von den medial verbreiteten Proklamationen über sensationelle Fortschritte und Erfolge irgendeines Wissenschaftszweiges erfahren hat. Insbesondere eine Evolution ohne Geist, Sinn, Zweck und Ziel, basierend einzig und allein auf dem Zufall eines Urknalls, zufälligen Mutationen und problematischer Selektion der von fast jedem Wissenschaftler anders gesehen Fittesten einer Spezies, hat es den „aufgeklärten“ Atheisten unserer Gegenwart angetan. Sie halten eine derart reduzierte, beschnittene Evolutionslehre für das Nonplusultra der Evolutionswissenschaft, ja direkt für ein Dogma, das ihnen das ganze Dogmensystem der Kirchen ersetzt.

Aber selbst bei vielen Wissenschaftlern selbst spielen die vor aller Wissenschaft bereits eingenommene oder anerzogene Lebenseinstellung und das Interesse an Erfolg, finanzieller Unterstützung, Reputation, Anerkennung durch die Mehrheit der Wissenschaftler und viele andere wissenschaftsfremde Motive durchaus nicht selten eine entscheidende Rolle. Selbst bei der Darstellung und Interpretation ihrer vermeintlichen Erkenntnisse und Entdeckungen.

Jüngst noch hat eine mutige, alle Widerstände des wissenschaftlichen Establishment durchaus vorausahnende Wissenschaftlerin den Finger auf diese Wunden des vermeintlich exaktesten Zweiges aller Wissenschaftsdisziplinen gelegt. Die Physikerin Sabine Hossenfelder vom Frankfurt Institute for Advanced Studies deckt in einer Klarheit und Offenheit ohnegleichen die Grenzen, Einschränkungen, Fehler, Irrtümer und Illusionen ihrer Fachbranche auf. Sie gibt es selber zu, dass sie, als sie sich für das Physikstudium entschied, nicht geahnt habe, „wie sehr man da seine Arbeit verkaufen muss … Am besten fährt man in meinem Fach ja mit Forschungsthemen, die bei den Kollegen gut ankommen. Besonders beliebt sind aber leider Theorien, bei denen ich mich frage, ob das noch irgendetwas mit der Realität zu tun hat“.

Frau Hossenfelder hat ein sorgfältig recherchiertes Buch geschrieben: „Lost in Math. How Beauty Leads Physics Astray“, Basic Books 2018; die deutsche Übersetzung erschien im September desselben Jahres mit dem Titel „Das hässliche Universum“. Das Magazin Der Spiegel hat angesichts der Herausgabe dieses Buches mit Hossenfelder ein Interview geführt, aus dem hier zitiert wird: Nr. 24 / 9.6.2018, 103 - 105.
Im Interview gibt die Physikerin ihrer Sorge Ausdruck, das Publikum könnte das Vertrauen in die Wissenschaft verlieren. „Den interessierten Laien ist schon lange klar, dass in meinem Fach irgendwas komisch ist. Ständig werden da wilde Dinge vorhergesagt, die sich dann doch nicht bestätigen. Wenn es in der Grundlagenphysik zugeht wie in der Ernährungswissenschaft, wo der Kaffee heute gut und morgen schlecht für die Gesundheit ist, dann haben wir ein Problem“. Aber wenn man das anspreche, habe man ein weiteres Problem: „In meinem Forschungsgebiet kann ich eine schöne Anstellung auf Lebenszeit jetzt wohl vergessen“. Man mache sich halt eine Menge Feinde.

Trotzdem nimmt Frau Hossenfelder die eleganten und sensationellen Spekulationen über Multiversen, Supersymmetrien und Geisterteilchen couragiert aufs Korn: „Die Supersymmetrie. An sich ein schönes Weltmodell: Jedem Elementarteilchen entspricht ein supersymmetrischer Partner. Aber die Suche nach diesen spiegelbildlichen Partikeln läuft seit Anfang der 90er Jahre ohne Erfolg. Trotzdem geht das immer so weiter“.

Die Physikerin betonte zwar, dass die Theorie der Supersymmetrie „schön und elegant“ sei. Aber dass diese Schönheit und Eleganz „für viele Teilchenphysiker leider ein entscheidendes Kriterium ist. Die Supersymmetrie, so glauben sie, sei zu schön, um nicht wahr zu sein. Aber Schönheit ist subjektiv. Warum sollte die Natur sich darum scheren, was wir Menschen gerade für schön halten?“ Gegenfrage des Spiegel-Redakteurs: „Was finden Physiker schön?“ Hossenfelder: „Eine Theorie, die das Weltall erklärt, sollte möglichst einfach sein, je kürzer, desto besser, im Idealfall genügt eine einzige Weltformel. Die Theorie sollte elegant sein und sich möglichst natürlich anfühlen, ohne auffallend große oder kleine Zahlen. Aber niemand kann sagen, warum das so sein soll. Es ist bloß ein Gefühl.“

Gegenfrage, was denn so schlimm sei an auffälligen Zahlen? Hossenfelder: „Nichts. Trotzdem kommt vielen Physikern etwa die Masse des Higgs-Teilchens befremdlich vor. In der Praxis haben wir damit gar kein Problem, aber die Kollegen finden, das sehe hässlich aus. Sie suchen nach einer Erklärung“.

Aber, so der Einwand des Spiegel-Redakteurs, „gilt nicht das gesamte Standardmodell (der Physik) als hässliches Flickwerk?“ Hossenfelder: „Ja, schon wegen der 25 bekannten Elementarteilchen. Warum gerade die, und warum 25? Laien würden sich eher fragen, wo es da einen Anlass zur Beschwerde gibt. Warum soll es nicht einfach so sein, wie es ist? Aber die Kollegen können sich schönere Theorien ausdenken, also tun sie es. So kommt es zu schwindelerregenden Geistergebilden wie beispielsweise dem Weltmodell des Multiversums. Dem zufolge sind nach dem Urknall unendlich viele verschiedene Universen entstanden, und das unsere ist nur eines davon. Die These zu beweisen ist prinzipiell nicht möglich. Solche Spekulationen haben in der Wissenschaft nichts zu suchen“.

Der Verdacht, die theoretischen Physiker hätten sich mit ihren Spekulationen verrannt, liegt nahe. Hossenfelder: „Die meisten theoretischen Physiker, die ich kenne, studieren inzwischen Dinge, die noch niemand je gesehen oder gemessen hat. Sehr gern postulieren sie auch neue Teilchen, um ihre gedachten Weltmodelle aufzuhübschen“. Ja, im Grunde scheinen Teilchen einfach erfunden zu werden. Denn, so Hossenfelder, „neben den … Wimps haben wir inzwischen auch Wimpzillas und Simps, wir haben Präonen, Sfermionen, Axionen und Flaxionen, dazu Erebonen und Inflatonen. Wir haben sogar Unparticles, auf Deutsch Unteilchen. Es gibt Zehntausende Aufsätze, die diese Konstrukte genau beschreiben. Und die einflussreichsten darunter wurden wiederum tausendfach zitiert. Aber keiner dieser Partikel wurde je gesehen … Die überwiegende Mehrzahl dieser Arbeiten ist komplett nutzlos. Trotzdem erscheinen immer mehr davon.“

„Die Produktion läuft in der Regel nach einem bewährten Schema. Zuerst müssen Sie erklären, warum Ihr postuliertes Teilchen nirgendwo aufgetaucht ist. Es sollte also exakt so beschaffen sein, dass unsere größten Apparate es gerade nicht mehr entdecken können … Aber vielleicht schon die nächstgrößeren“. Das ist nämlich die „Regel Nummer zwei. Sie müssen begründen, warum man das Teilchen bald finden sollte, sagen wir in zehn Jahren. Denn wenn es noch tausend Jahre sind, reißen Sie niemanden vom Hocker. Gut ist auch, wenn Sie behaupten können, dass Ihr Teilchen irgendein Problem auf natürliche Weise löst … Sobald Sie ein, zwei Aufsätze dazu in anerkannten Journalen untergebracht haben, gilt Ihre Theorie als etabliert. Dann können Sie, wie mein Doktorvater zu sagen pflegte, die Kuh melken“. Einwand: „Und wenn das Teilchen dann nicht aufgespürt wird?“ Antwort: „Dann revidieren Sie eben seine gedachten Eigenschaften ein bisschen. Erklären Sie, warum es wohl doch erst mit der nächsten Generation von Detektoren klappen wird. Wenn die Suche dann endgültig aufgegeben wird, sind Sie längst pensioniert.“

Weiterer Einwand: „Aber auch nach dem Higgs-Teilchen wurde fast 50 Jahre lang gesucht. Müssen wir nicht einfach Geduld haben?“ Antwort Hossenfelder: „Das kann man nicht vergleichen. Da ging es nicht um eine schöne Theorie, sondern um echte Widersprüche, die gelöst werden mussten. Wäre nicht das Higgs oder etwas Ähnliches aufgetaucht, hätten wir große Probleme mit dem Standardmodell bekommen“.

Der Spiegel-Redakteur fragt die Physikerin, was sie denn von der String-Theorie halte, wonach alles, was existiert, aus schwingenden Fädchen besteht. Antwort: „Das ist zunächst mal eine wirklich faszinierende Theorie, sie hat das Zeug zur Weltformel, und sie ist mathematisch enorm ergiebig. Man kann endlos damit herumrechnen und Aufsätze publizieren. Aber die Theorie funktioniert nur, wenn es etliche Extradimensionen außer den uns bekannten gibt. Leider fand sich auch davon bislang keine Spur“.

Erstaunlich sei, dass so viele Forscher mit den Strings beschäftigt sind. Grund dafür: „String-Theoretiker sind billig, sie brauchen nicht viel für ihre Kalkulationen. Jede Fakultät, die auf sich hält, kann sich ein paar von ihnen leisten. Außerdem gelten die Kollegen als unterhaltsam – schon weil sie so unermüdlich mit immer neuen Ausflüchten ankommen, wenn ihre Extradimensionen wieder nicht aufgetaucht sind“.

Frage des Spiegel-Redakteurs, wie sich denn eine Wissenschaft so weit von der Realität entfernen könne. Antwort Hossenfelder: „Unter anderem wirkt da ein fataler Anreiz zum Schwarmdenken. Als Maß des Erfolgs gilt leider, wie oft eine Arbeit von Kollegen zitiert wird, am besten publiziere ich also über Dinge, mit denen viele andere ebenfalls beschäftigt sind. Dann werden sie sich demnächst wiederum auf mich beziehen“.

Dazu ein bezeichnendes Beispiel, das Hossenfelder schildert: „Vor 3 Jahren zeigte sich am Teilchenbeschleuniger in Genf ein kleiner Ausschlag in den Messdaten. So etwas kommt häufiger vor. Im Moment wird auch wieder eine rätselhafte Datenreihe diskutiert. Damals hätte das mit viel Glück die Spur eines neuen Teilchens sein können… Acht Monate später war der Traum vorbei – der verdächtige Befund erwies sich als zufällige Schwankung in der Statistik. Aber da waren schon mehr als 600 Artikel erschienen, die das angebliche Signal erklärten. Und die populärsten Arbeiten wurden rasch hundertfach zitiert. Bei einem solchen Ausstoß können die Maßstäbe für Qualität nicht mehr stimmen“.
Und es müsse schnell gehen. „Nur wer es unter die Ersten schafft, wird dann zum Lohn von den Kollegen reichlich zitiert, die später eintreffen. Dieses Phänomen hat sogar schon einen Namen, wir sprechen von >ambulance chasing<, die Kollegen jagen dem Rettungswagen hinterher wie Anwälte, die hoffen, dass es am Unfallort jemanden zu verklagen gibt.“

Hossenfelder bezweifelt sogar, dass die Grundlagenphysik, die den Aufbau des Kosmos erforscht, „überhaupt noch eine solide Wissenschaft ist“. Denn wir kommen ja „mit dem Verständnis der Naturgesetze nicht mehr voran. Wir betreiben Detektoren in unterirdischen Minen und etliche Teilchenbeschleuniger, darunter den gewaltigen Large Hadron Collider in Genf. Trotzdem haben wir seit 4 Jahrzehnten kaum mehr Daten gewonnen, die uns etwas Neues sagen könnten“. Es genüge doch nicht, das mit dem größten Teilchenbeschleuniger in Genf das Higgs-Teilchen gefunden wurde, das sich problemlos in die alte Physik einfügen lässt. Das helfe uns aber überhaupt nicht, um die Rätsel zu lösen, die noch offen seien: „Wir vermuten zum Beispiel, dass nur ein Sechstel der Materie im Universum sichtbar ist. Der Rest blieb uns bislang verborgen, wir sprechen von dunkler Materie. Das Standardmodell beschreibt alle bekannten Elementarteilchen und deren Wechselwirkung. Die dunkle Materie hat darin keinen Platz. Wir wissen aber: Da muss etwas sein“.

Manche Forscher glauben, die dunkle Materie bestehe aus Wimp-Teilchen. „Wir suchen danach seit den Achtzigern. Bislang gibt es nicht die geringste Spur. Gerade wurde wieder ein Fehlschlag gemeldet. Ein großer unterirdischer Detektor im italienischen Gran-Sasso- Massiv konnte keine Wimps aufspüren …. Wenn der eine Detektor nichts findet, ruft man eben nach einem größeren, der noch tiefer in die Materie hineinspät. Auch vom Genfer Ringbeschleuniger hatten viele Kollegen sich Belege für dunkle Materie oder Supersymmetrie erhofft. Ebenfalls vergebens. Das hindert sie aber nicht, weiter ihren Spekulationen nachzusteigen und auf den nächsten Riesenbeschleuniger zu hoffen“.

Hossenfelder konstatiert, dass angesichts dieser Misserfolge nicht wenige jetzt verwirrt seien: „Sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen. So lange haben sie geglaubt, was wahr ist, müsse auch schön sein, denn so eine Unordnung würde Gott nicht dulden … Selbst Einstein ließ sich noch von einem Gefühl für Schönheit leiten. Er war überzeugt, das Universum bleibe stets in sich gleich. Die Vorstellung eines Urknalls fand er abscheulich, wie viele seiner Zeitgenossen. Später hat Einstein sich aber damit abgefunden“.

Auch viele unter den heutigen Physikern hegen eine „Sehnsucht nach kosmischer Harmonie … Sie wünschen sich einen Kosmos, der von schönen und natürlichen Gesetzen bestimmt ist“. Dazu Hossenfelder: „Ich sehe da keinen großen Unterschied zum Glauben an einen gütigen Gott“.

Sie fordert, „strengere Maßstäbe an unsere Methoden anzulegen“, wenn die Theoretische Physik aus ihrer Krise wieder herausfinden solle. Denn „vielleicht stimmt auch die eine oder andere Grundannahme nicht“, weil die Teilchenphysik möglicherweise unterwegs irgendwo falsch abgebogen ist. „Nehmen Sie beispielsweise die dunkle Materie, von der wir immer noch keine Spur haben. Vielleicht gibt es sie ja wirklich nicht. Eine alternative Lösung wäre durchaus denkbar. Dafür müssten wir die Schwerkraft anders verstehen. Daran arbeite ich selbst gerade. Aber am meisten wäre gewonnen, wenn wir uns nicht länger verausgaben würden mit der Lösung von Problemen, die gar keine sind – nur weil uns die Naturgesetze nicht schön genug sind“.

Sie habe die deutsche Übersetzung ihres Buches mit dem Titel „Das hässliche Universum“ herausgebracht. Aber, so sagt sie, was heißt schon hässlich? „Wir lernen ständig dazu, und wenn wir verstehen, wie etwas funktioniert, finden wir mit der Zeit auch Gefallen daran. Unser ästhetisches Ideal wächst mit unserem Wissen. Was wir gestern noch hässlich fanden, kann uns morgen schon schön vorkommen“.

Ich habe dieses Interview so ausgiebig wiedergegeben, weil es eines der überzeugendsten und aufschlussreichsten Dokumente eines letzten Agnostizismus auch in den Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften ist. Denker wie Popper, Precht, Sheldrake, Singer und andere, die im vorliegenden Buch bereits dargestellt wurden, haben ebenfalls auf eine letzte Fragmentarität, Unabgeschlossenheit, Unsicherheit und Ungewissheit der wichtigsten Ergebnisse der Forschung hingewiesen. Wenn die Wissenschaft in ihren kühnsten Ideen die Lösung der Welträtsel im transzendierenden, ja geradezu transzendentalen Zugriff auf Supersymmetrien, Multiversen, dunkle Materie und ähnlich schwindelerregende Weltmodelle sucht, dann ist damit geradezu bewiesen, dass die metaphysische Anlage des Menschen und die Suche nach dem alles begründenden Weltgeist keine Chimäre, keine Illusion sind, vielmehr das Höchste darstellen, womit sich die Menschheit überhaupt zu befassen vermag.

Erscheinungsdatum: 07.06.2019