Drewermann entschuldigt die klerikalen Missbrauchstäter.

Von ihm hätte man das am wenigsten erwartet! Der bekannte Theologe Eugen Drewermann, der im Jahr 2005 im Alter von 65 Jahren aus der katholischen Kirche austrat, begründete das damals damit, dass er die Humanwerte „Dialog und Freiheit“ in der katholischen Kirche zu finden gehofft hatte, sie aber dort nicht gefunden habe. Aber nun in der größten Not der Kirche, wo so viele auch und gerade wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, Jugendlichen und abhängigen Kirchenangestellten durch Priester aus der Kirche austreten, eilt ihr Drewermann, der sich doch vermeintlich radikal und für immer von ihr verabschiedet hatte, eifrig zu Hilfe. Und das mit einem seltsamen Argument, das sonst noch niemand in der ganzen Missbrauchsdebatte vorgebracht hat.


Fast könnte man von einem raffinierten Trick sprechen, den Drewermann aus seinem Repertoire hervorzaubert und durch den er mit einem Schlag die Herren der Kirche und ihre Kleriker von aller Schuld freispricht.
Der Trick besteht in seinem mit Nachdruck betonten Hinweis, dass die Missbrauchspriester im Grunde keine Täter, sondern Opfer seien. Im Gespräch mit der katholischen Theologin Christiane Florin, das vom Deutschlandfunk gesendet wurde, erklärt Drewermann, dass es ja die Kleriker seien, die „am meisten an der katholischen Kirche leiden“. In seinem ganzen Interview mit dieser Theologin packt er eine Menge von Aspekten aus, die beweisen sollen, dass die Missbrauchspriester im Grunde noch mehr leiden als ihre Opfer.


Selbst der angesichts ihrer Mitgliedschaft in der katholischen Kirche und ihres Studiums der Theologie ja einiges gewohnten Frau Florin platzt dann doch trotz aller Höflichkeit der Kragen, so dass sie dem Apologeten der priesterlichen Täter entgegenwirft: Aber „es gibt doch natürlich auch die Würde der Opfer. Wo bleiben die bei dem Mitleid mit den Klerikern?“
Drewermann beschwichtigt: Ja, ja, natürlich „haben die Opfer ein Recht, wirklich einen Anspruch – nicht auf Wiedergutmachung jetzt finanziell, das ist das Banale –, aber auf Verständnis“.
Dieses Verständnis fasst Drewermann aber schon wieder so auf, dass es den Missbrauchstätern mehr als den tatsächlichen Opfern nützt. Denn, so Drewermann, „man wird feststellen …, das mit dem Bedürfnis, der andere, der mich verletzt hat, muss jetzt auch verletzt werden, indem er bestraft wird, sich alles nur im Kreise dreht“. Das wirkliche Verständnis der Opfer bestehe doch darin, „auch die Hilflosigkeit dessen zu verstehen, der einem etwas angetan hat. Und wirkliche Versöhnung mit sich selber ist identisch mit der Versöhnung dann auch des anderen“.
Drewermann betont hierbei noch mit Nachdruck, dass das gerade Gesagte jetzt nicht bloß ein „schönes Wort“ sei: Vielmehr gelte es, „durch Einsicht, durch Verstehen in sich selber, zugleich mit dem anderen das Terrain des menschlich Verbindenden so zu verstärken, dass der Ausschluss überflüssig wird.“


Der Ausschluss, damit meint Drewermann wirklich auch den Ausschluss der Strafe. Denn die Priester seien ja schon genug bestraft. O-Ton Drewermann: Selbst die hohen „Vertreter der Kirche tun mir auch leid, mein eigener Bischof in Paderborn, Kardinal Ratzinger. Ich begreife deren Angst, deren Not, deren Pflichttreue, deren Gebundenheit an die heilige Tradition“.
Und das Heer der armen Priester merke gar nicht, „das vieles an Gehemmtheiten, an Unterdrückungen unter dem Titel Reinheit, Gehorsam und Armut in allen drei Triebbereichen“ ihnen aufgelastet werde, und „dass die Unfreiheit dann überhöht und verklärt wird zu einer besonderen Erwählung durch Gott… Die Idealbildungen der Kirche sind nicht auf persönliche Entfaltung ausgerichtet“.
Selbst die geschichtliche Entwicklung der Kirche spricht Drewermann weitgehend frei von Schuld. Die meisten repressiven Dekrete und Maßnahmen der Amtskirche begannen nach Drewermann erst mit dem 11. Jahrhundert mit der Cluniazensischen Reform. „Der ist kein Vorwurf zu machen. Es gab noch im 16. Jahrhundert so etwas wie Psychologie nicht entfernt. Dass es so gekommen ist, ist nicht anzuklagen. Dass es so geblieben ist und man jede Welle der Erneuerung, der Aufklärung von der Reformation über ein halbes Jahrtausend, über die Aufklärung im 18. Jahrhundert, die Psychologie im 19. Jahrhundert, die Psychoanalyse im 20. Jahrhundert, den Feminismus endgültig im 21. Jahrhundert, verweigert und verweigert mit fertigen Schablonen, das alleine ist in seiner Unflexibilität selber schon entwicklungsfeindlich und deshalb zerstörerisch und hemmend“.


Auch der Priester selbst, der Kinder, Jugendliche und Abhängige verführt, ist nach Drewermann keine verantwortliche Person. „Man verführt keine Kinder, ohne dass man selbst unreif geblieben wäre… Ich kenne keinen Priester, und ich behaupte, es gibt auch keinen, der sich weihen lässt in der Absicht, später solche Handlungen zu begehen“. Das passiere leider. Aber das sei in Wirklichkeit „eine Tragödie, die sich lange vorbereitet. Die Vokabel am einfachsten dafür ist ‚Wiederholungszwang‘ oder ‚Wiederkehr des Verdrängten‘. Da ist etwas lange unterdrückt worden. Da wurde mit heiligen Vokabeln, mit Askese, mit allen möglichen Transformationsprozessen die Sublimation aus dem Triebbereich ins Geistige verlagert. Das wurde rationalisiert. Man war auf der Flucht vor sich selber und konnte nicht wissen, dass all das, hinterherlaufend wie ein Schatten, irgendwann den Flüchtenden einholen würde. Es wartet förmlich auf eine Gelegenheit, jemandem zu begegnen, der genauso hilflos ist wie der Betreffende, der dann handelt… Das ist so fatal, weil subjektiv es ganz schwer ist, aus der Falle herauszukommen, wenn man erst mal drin ist“.


Die Gesprächspartnerin, Frau Florin, gibt zu bedenken: „Aber, wenn Sie sagen, Tragödie, Leiden (der Priester), damit machen Sie auch die Täter zu Opfern“. Drewermanns Antwort: „Absolut. Und das meine ich jetzt in vollem Ernst. Vielleicht eine Gelegenheit, mal über unsere Art des Strafrechts nachzudenken, über unsere Schuldsprüche, über unsere zweiwertige Moral. Simpel gesagt, wir teilen die Welt in zweiwertiger Logik nach Gut und Böse ein. Wir unterstellen praktischerweise auch, dass die Menschen frei sind. Und, wenn sie wissen, was Gut und Böse ist und tun trotzdem das Böse, in Freiheit, wie wir annehmen, sind sie zu bestrafen. Und je schlimmer das Vergehen, desto strenger.“ Aber „die Menschen, die Böses tun, sind nicht böse. Sie wollen das nicht. Sie sind im Grunde wie Verlorene, Verlaufene, Verzweifelte. Und wie geht man sie jetzt suchen, um sie zurückzuholen? Das wäre die Aufgabe, aber nicht den Stab über sie zu brechen oder auf sie draufzuhauen. Wir hätten viele Motive, das Strafrecht zu ändern“.


Frau Florin: Ja, „heißt das, Sie halten es für ganz richtig, wenn die nicht angezeigt werden von der Kirche?“ Drewermann dagegen: „Ich halte eines für notwendig, dass wir aus den Tragödien des sogenannten Bösen, aus der Hilflosigkeit und Verlorenheit der Menschen viele Motive hätten, das Strafrecht insgesamt zu ändern. Die Neurologie beispielsweise bezweifelt, dass es Freiheit überhaupt gäbe“.
Und nun kommt eine Aussage Drewermanns, die für ihn typisch ist und die den Schwerpunkt seines gesamten Wirkens in der Öffentlichkeit aufdeckt. Denn Drewermann möchte in einem unerhörten, ja geradezu prophetischen Sendungsbewusstsein das Christentum total in seinem Sinne umkrempeln, es so umgestalten, dass es seiner „genialen“ Interpretation des Christentums entspricht. Schon „als Kind hatte ich vor“, so Drewermann, „nach Albert Schweitzers Modell irgendetwas zu tun, das sinnvoll ist. Und beides mochte ich eigentlich – Priester und Arzt werden… Wie erwärmt man die Seele von Menschen, denen die Gefühle erkaltet wurden?“
Also beschloss Drewermann, die vier Evangelien, überhaupt das ganze Neue Testament trotz der vielen diversen Strömungen und Richtungen darin sowie der verschiedenen Charakterisierungen und Typisierungen der Person Jesu zu vereinheitlichen und nur noch auf einen Punkt hin auszurichten, nämlich auf Jesus als Heiler, als Therapeuten, vor allem als Psychotherapeuten. Wie hat er es in einem anderen Zusammenhang, den ich in meinem Buch „Denkverbot“ wiedergegeben habe (S. 60 ff.), ausgedrückt: Das Christentum dürfe nur ein Motiv haben, nämlich das des Heils, der Heilung. Alle anderen, in andere Richtungen gehenden Aussagen des Neuen Testaments wischt Drewermann weg, sind für ihn irrelevant. Ein Kapitel in einer seiner zahlreichen Schriften trägt direkt die Überschrift: „Das Christentum ist nur kraft der Erlösung wahr – Sigmund Freud als Vorbild“. Freud wird hier für eine romantisierende und verklärende Psychoanalyse der Evangelien und des Seelenlebens überhaupt in Anspruch genommen.


Drewermann kann sich natürlich darauf berufen, das vieles, was Christen als von den Evangelien berichtete historische Tatsachen zwei Jahrtausende lang geglaubt haben, durch die historisch-kritische Methode als nicht existent, nicht stattgefunden, als Märchen, Mythos, Legende, religiöse Intuition oder Inspiration, als Übernahme aus anderen Religionen oder als Fälschungen aufgedeckt wurde. Aber dass er nun an die Stelle aller Deutungen der Evangelien und der Person Jesu mit dogmatischer Bestimmtheit nur eine einzige der möglichen Deutungen dieser Person setzt, macht ihn im Grunde zum Fundamentalisten.
Drewermann „rettet“ also die auf der historischen Ebene in vielen Punkten nicht mehr haltbare geschichtliche Wahrheit des Christentums dadurch, dass er sie auf einer anderen, tieferen Ebene neu etabliert. Gemeint ist die Zuhilfenahme der Psychoanalyse Freuds und der komplexen Tiefenpsychologie C. G. Jungs mit ihren Archetypen, ihren kollektiven Vorbildern für sein religiöses System.
Nachdem also Drewermann emphatisch und apodiktisch proklamiert hat, das Christentum sei nichts anderes als das Programm einer umfassenden psychosomatischen Heilung des Menschen und Jesus das Zentrum dieses Heilungsprozesses, kann er nun auch in seinem Interview mit Frau Florin unfehlbar behaupten, dass „das Christentum definitiv erklärt, dass Menschen gar nicht gut sein können, einfach, weil sie wollen, dass sie unfrei sind, solange sie die Opfer ihrer Ängste bleiben, dass sie zu einem Vertrauen geführt werden müssten, das ihnen eine innere Identität gibt… Menschen, die glücklich sind, wollen nichts Böses mehr“. Der generelle Grund- und Hauptsatz im Umgang von Staat und Kirche mit den Menschen müsse im Sinne eines Wortes des heiligen Augustinus lauten: „Ich möchte heilen, nicht verklagen“. Denn „das wäre christlich von Grund auf, und es würde den ganzen Staat ändern“.


Selbstverständlich gehören auch nach Drewermann die klerikalen Missetäter „in die Hände von Beauftragten, die zur Hilfe wirklich zur Verfügung stünden. Aber es geht nicht mit polizeilicher Verhaftung, mit Strafrecht in klarer Ordnung“. Diese Art der Bestrafung „untersteht dem Hohn der Öffentlichkeit und der ganzen Seiten, die die Bild-Zeitung dem Vatikan widmet, was jetzt zu tun wäre. So geht es nicht. Wir kriegen nicht die Gesundheit der Bevölkerung frei von Cholera, indem wir absteigen in die Kanalisationssysteme… Wir müssten uns nur zugeben, dass unsere Ethik, die wir tradiert haben, viel zu flach ist, als dass sie den Menschen gerecht werden könnte… Wir haben zu starre Regeln für alles“.


Das gelte auch für das Zölibatsgesetz der Kirche. Frau Florin wirft ein: Es seien doch „im Moment in der katholischen Debatte einige Reformvorschläge auf dem Tisch. Bischöfe stellen öffentlich den Zölibat infrage und schließen sogar Priesterinnen nicht mehr für alle Ewigkeit aus“. Nun geht ja diese Debatte schon seit Jahrzehnten, und sie flammte eigentlich in jedem Jahrhundert der Existenz der Kirche immer wieder auf. Wer jetzt aber dächte, Drewermann würde sich total, radikal, sofort für schnelle Reformen einsetzen, der läge falsch. Ganz im Sinne der stets zögernden und zaudernden Amtskirche erklärt Drewermann, dass das alles erst „wieder reifen müsste. Es ist nicht als grüne Revolution von oben per Dekret des Papstes auf Kommando durchzusetzen in der Kirche“.
Jetzt platzt aber auch der strammen Katholikin Florin der Kragen: „Sie sind aus der katholischen Kirche ausgetreten und geben ihr doch immer wieder eine Chance. Also, warum ist diese Kirche für Sie noch der Rede wert?“ In seiner Antwort ist Drewermann schon ganz auf der Linie der immer macht- und profitorientiert denkenden und handelnden Herrschaftsschicht der Kirche. Nun, antwortet deshalb Drewermann der Dame: „Die katholische Kirche hätte eine gewaltige Bedeutung. Sie hat ja über 1,2 Milliarden Menschen, die sich ihr zurechnen. Sie hätte einen enormen Einfluss bis in die Weltpolitik hinein. Sie müsste nur das leben, was ihr eigenes Anliegen wäre“.
Drewermann schmeichelt der Kirche noch weiter: „Ich verdanke der Kirche wirklich viel“. In meinem Leben „konnte die Kirche mir zum Teil behilflich sein“. Er glaube von sich sagen zu dürfen und nehme das auch von allen anderen Klerikern an, dass sie „die Kirche ernst nehmen, dass sie sich damit identifizieren, dass sie das Amt nicht nur aus Spieltrieb oder Karrieresucht ausüben, sondern aus dem, was man Berufung nennt, an die sie wirklich glauben“.


Selbst die fünf Prozent der beschuldigten Priester haben ja „die Missbrauchsfälle … nicht mit physischer Gewalt ausgeübt, sondern durch Verführung“. Und die Opfer dieser Verführung haben nach Drewermann ja auch ein Problem, „das riesige Problem, nicht nur, dass sie mal verführt wurden in einem Zeitabschnitt, wo sie dafür noch nicht reif waren vermutlich, sondern dass sie große Schwierigkeiten haben, sich abzugrenzen. Selbst im Rückblick. Was habe ich selber gewollt, wann hätte ich nein sagen müssen, wann konnte ich überhaupt nicht nein sagen?“
Bei so viel Mitleid, Mitgefühl und Einfühlungsvermögen in die Missbrauchspriester und angesichts der nicht wenigen Versuche Drewermanns, auch den Opfern der Priester eine Schuld ins Gewissen zu reden, wundert es einen nicht mehr, dass die Katholikin Florin dem Drewermann jetzt doch die Frage stellt: „Leben sie selbst zölibatär?“
Die Antwort Drewermanns ist schwammig, lavierend, unbestimmt, ausweichend, um nicht zu sagen: feige. Dieser Mann, der vermeintlich so sehr für Wahrheit und Freiheit in der Kirche eintritt, theoretisch auch das Zölibatssystem der Kirche in seinen Büchern und anderen Publikationen heftig kritisiert hat, will nicht zugeben, dass auch er das Zölibatsgesetz im Sinne der Kirche nicht einhält und eine Freundin hat, die auch zur Psychotherapeutin geht, um ihre Schwierigkeiten im Umgang Drewermanns mit ihr loszuwerden.


Hören wir uns aber an, was der „mutige“, couragierte, immer „furchtlos die Wahrheit sagende“ Theologe Drewermann auf Florins Frage, ob er das Zölibatsgesetz halte, antwortet: „Ich lebe so, dass ich denke, am meisten dem zu entsprechen, was man unter Liebe zum Menschen versteht. Das ist nicht festzulegen auf eine Ordnung, die im Kirchensinn sich fixiert auf ‚hältst du Abstand zu einer Frau oder nicht‘. Es geht um Liebe. Es geht nicht um Regeln, die von außen her zu dokumentieren wären… Der Sinn des Zölibats liegt ja nicht in einer abstrakten Enthaltsamkeit. Er liegt darin, dass man so liebt, dass es dem anderen guttut. Dazu gehört Enthaltsamkeit, ja. Freud schreibt das sogar in der Psychoanalyse als strenge Regel, mit freischwebender Aufmerksamkeit der Enthaltsamkeitsregel zu folgen. Ein Mensch wird nicht missbraucht, auch nicht für die eigenen Bedürfnisse und Triebzielsetzungen. Es geht um den anderen. In dem Sinne bemühe ich mich sehr, dem Zölibat zu entsprechen“.


Halleluja! Das ist ein so exemplarisches Manifest eines Jein zur Frage, ob einer das kirchliche Zölibatsgesetz hält, dass es jeder zölibatsbrechende Priester einrahmen und über seinem Bett aufhängen, am besten auswendig lernen sollte, um damit der inquisitorischen Frage seines kirchlichen Vorgesetzten stets ausweichen zu können, indem er frisch und frei antwortet, ohne wirklich etwas gesagt zu haben. In diesem Sinne hat der nach einer Aussage der Frau Florin sogar von einem Bischof zum „Propheten“ hochstilisierte Drewermann allen Zölibatsbrechern in der Kirche einen riesigen Dienst erwiesen! Ist er schon nicht mutig, so ist er doch clever!
Seinen „Mut“ in derselben Sache hat der „Prophet“ schon mehrfach „bewiesen“. In einer vom Fernsehen übertragenen Talkshow fragte ihn der St. Pöltener Bischof Krenn ebenfalls, ob er zölibatär nach dem Gesetz der Kirche lebe. Wiederum schwamm der vorher in seiner Rede so schneidige Herr Drewermann im Zickzackkurs in alle Richtungen, nur nicht in Richtung auf eine klare Beantwortung der bischöflichen Frage mit einem Ja oder Nein. Dabei müsste doch der sonst ständig von Jesus redende Drewermann die Jesusworte kennen, die da lauten: „Deine Rede sei ja oder nein. Alles andere ist vom Bösen“.
Nein, auch in der Antwort, genauer dem Anschein einer Antwort Drewermanns auf Bischof Krenns Frage bewegte er sich mit flatternden Flügeln in den Literaturlandschaften Balzacs, Dostojewskis und Camus‘ und deren Ansichten zum Zölibat, aber er selbst blieb auch da eine eindeutige Antwort auf die von Krenn gestellte Frage schuldig.


Hätten all die „mutigen“ Kirchenkritiker wie Küng, Drewermann, Hasenhüttl und andere, die ganze Traktate über die Notwendigkeit der Streichung des Zölibatsgesetzes der Kirche schrieben, auch nur mit einem einzigen Satz sich dazu bekannt, mit einer Frau zusammenzuleben, was sie ja tatsächlich taten, dann hätten sie wirklich etwas Wesentliches für die Befreiung und Heilung der katholischen Priesterkaste geleistet, während all ihre theoretischen Ausführungen zu dieser Thematik nur ein höhnisches Lächeln auf den Gesichtern der kirchlichen Hierarchen bewirken konnten.
Nicht bloß in der Zölibatsfrage, sondern auch im Hinblick auf andere Probleme in der Kirche ist Drewermann nicht so mutig und wahrhaftig, wie er gerne erscheinen möchte. Als vor einigen Jahren starke demokratische Bewegungen in einigen europäischen Ländern aufbrachen, die unter dem Namen Kirchenvolksbegehren auch in der weltlichen Presse starke Resonanz fanden, rief Drewermann die Demonstrierenden und Protestierenden auf, aus der Kirche auszutreten, weil sie sonst von den Herren der Kirche, den Hierarchen, gar nicht ernst genommen würden und ihr ganzer Protest ins Leere liefe.
Ich schrieb damals einen Leserbrief an eine Zeitschrift, die Drewermanns Aufruf gebracht hatte, an das in Wien erscheinende Magazin „Kirche In“. Mein Leserbrief trug die Überschrift: „Drewermann, geh‘ du voran!“ Darin warf ich Drewermann vor, die am Kirchenvolksbegehren Teilnehmenden zwar zum Kirchenaustritt anzustacheln, jedoch selbst weiterhin ohne eventuelle negative Konsequenzen in ihr zu bleiben.
Für ihn war es damals noch nicht opportun, aus der Kirche auszutreten. Immer noch hoffte er ja, eine Professur an einer katholisch-theologischen Universitätsfakultät zu bekommen. Und dazu braucht man ja bekanntlich angesichts der staatskirchlichen Verfilzung in Deutschland das Placet, das nihil obstat des Ortsbischofs, in besonderen Fällen sogar des Vatikans. Also wollte sich Drewermann die Herren der Kirche nicht endgültig abspenstig machen und blieb in ihr drin.


Wohlgemerkt: Schon 1991 verlor Drewermann seine kirchliche Lehrerlaubnis, womit er sich zwar rühmt, die aber gar keine negativen Folgen für ihn zeitigte, weil er ja noch gar keine Professur hatte, die er hätte verlieren können. Ganz im Gegenteil: Er gründete, wie er dem damaligen Erzbischof von Paderborn, Degenhardt, entgegenschleuderte, „mit sofortiger Wirkung eine Personalgemeinde Drewermanns“.
Wäre er nur mutig, unabhängig, nicht opportunistisch denkend, dann wäre er schon 1991 aus der Kirche ausgetreten, spätestens aber hätte er sie im Zusammenhang mit dem Kirchenvolksbegehren verlassen müssen, bei dem er doch die Katholiken zum Kirchenaustritt aufgefordert hatte. Nein, er blieb noch fast 15 Jahre in der Kirche, nämlich bis zum Jahre 2005, in dem er dann doch seine Kirche verließ. In diesem Jahr hatte er nämlich seinen 65. Geburtstag gefeiert, und angesichts dieses Pensionsalters war ihm klar, dass ihn die Kirche nicht mehr auf eine Professur berufen würde.
Allerdings ist auch „seine“ Mutter Kirche, von der Drewermann sich nicht so ganz trennen kann, ebenso opportunistisch wie er selbst. Denn sie hat nie an die große Glocke gehängt, dass Drewermann aus ihr ausgetreten ist, ganz ebenso wie das auch Drewermann nicht tut. Warum? Beide helfen einander, beide nützen sich gegenseitig! Der Kirche würde es schaden, wenn der Masse der einfachen Katholiken bekannt würde, dass ihr bekanntester Theologe der Kirche überhaupt nicht mehr angehört. Drewermann wiederum würde es schaden, wenn er nicht mehr in den Kirchen, kirchlichen Vortragssälen, kirchlichen Akademien usw. auftreten und predigen könnte. Also hängt auch er die Tatsache seines Kirchenaustritts nicht an die große Glocke.


Angesichts der Tatsache, dass wir keine staatsunabhängige Kirche und keinen kirchenunabhängigen Staat haben, vielmehr Staat und Kirche ineinander verfilzt und verflochten sind, würde selbst unser ebenso abhängiges öffentlich-rechtliches Fernsehen Drewermann nicht mehr zu Interviews und Talkshows einladen, wenn er als Abtrünniger, als Kirchendissident gälte.
Man bedenke: Die Theologen sind überall, mischen überall mit, sind in Ethikkommissionen, Beratungsfirmen der Regierung, Aufsichtsräten, die Zahl der Theologen und sich der Kirche verbunden fühlenden Bundes- und Landtagsabgeordneten geht in die Hunderte.
Jeder Sender des Fernsehens, WDR, SWR, NDR, MDR usw. hat noch eine gute dotierte Abteilung, meist unter dem Namen „Religion und Gesellschaft“, an deren Spitze ein Theologe oder eine Theologin steht, und die ganze Crew ist auch katholisch oder evangelisch. Wer sich mit dieser Macht im Staate anlegt, kommt in den Medien nicht mehr vor.
Auch unter diesem Gesichtspunkt bleibt Drewermann typisch katholisch: kat holon = nach dem Ganzen greifend, die ganze Welt umfassend. Auch Drewermann will, wie einst der hl. Paulus, die ganze Welt missionieren, für sich einnehmen, zu seiner Konzeption des Christentums bekehren! Und dazu braucht er die ihm wohlgesonnene Öffentlichkeit und Einflussmacht der Kirche.
Insofern sagt er auch nicht die Wahrheit, wenn er heute im Interview mit Frau Florin erklärt: „Es gibt Leute, die sind meinetwegen in die katholische Kirche eingetreten. Manche sind da ausgetreten. Ich kann zu gar nichts raten, außer, dass man vor Gott frei wird“.


Das klang vor ein paar Jahren, als Drewermann im Rahmen des Kirchenvolksbegehrens die Leute aufforderte, aus der Kirche auszutreten, noch ganz anders. Aber da ist er wie ein Politiker: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“ Natürlich hat er recht, wenn er heute in besagtem Gespräch mit Frau Florin endlich zu der Einsicht gekommen ist, dass „zur Religion jeder in eigener persönlicher Gewissensentscheidung kommt, die man ihm überlassen muss“.
Aber auch das war zumindest vor einigen Jahren oder sogar Jahrzehnten noch anders. Möglicherweise ist Drewermann heute tatsächlich nicht mehr so absolut überzeugt von seiner einzigartigen Rolle als neuer Prophet des Christentums und der Kirche. Aber damals, als er die kirchliche Lehrerlaubnis verlor und „die Gemeinde Drewermann“ gründete, waren es, wie das kirchenkritische Magazin „Publik-Forum“ berichtete, in Wirklichkeit gleich zwei Gemeinden, die Drewermann angehören wollten. Die eine wollte unbedingt alles, was Drewermann sagte, lehrte und schrieb, in toto übernehmen, die andere wollte auch kritisch reflektieren, was immer er an Inspirationen vorbrachte. Mit dieser zweiten Gruppe wollte Drewermann nichts mehr zu tun haben! Er löste sie auf!
In Wirklichkeit ist Drewermann ein typischer „progressiver“ Katholik von heute: Hin und her gerissen zwischen seiner alten Mutti Kirche, von der er nicht lassen kann, und der Moderne, der er als „fortschrittlicher“ Theologe doch auch zugerechnet werden möchte.


Bücher zur Ergänzung der Drewermann-Debatte

H. Mynarek, Herren und Knechte der Kirche, 3. Auflage, Freiburg 2010 (Ahriman);
ders., Religion – Möglichkeit oder Grenze der Freiheit? Köln 1977 (Verlag Wissenschaft und Politik);
ders., Denkverbot. Fundamentalismus in Christentum und Islam, 2. Auflage, Bad Nauheim 2006 (ASKU-Presse);
ders., Erster Diener seiner Heiligkeit, Köln 1993 (Verlag Kiepenheuer und Witsch);
ders., Die neue Inquisition, Neuauflage 2018, Alsdorf (NIBE Verlag);
ders., Kritiker contra Kriecher, Ulm 2005 (Historia Verlag);
ders., Papst-Entzauberung, Norderstedt 2007 (BoD);
ders., Jesus und die Frauen, 3. Auflage, Essen 2008 (Die Blaue Eule);
ders., Eros und Klerus, 6. Auflage (=Neuauflage), Alsdorf 2018 (NIBE Verlag);
ders., Casanovas in Schwarz, 2. Auflage, Essen 2005 (Die Blaue Eule);
ders., Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann, Marburg 2012 (Tectum Verlag);
ders., Papst Franziskus. Die kritische Biografie. Marburg 2015 (Tectum Verlag).


Erscheinungsdatum: 12.06.2019