Es scheint kein Weg daran vorbeizuführen: Auch das allergrößte Abenteuer, nämlich die Gestaltung von Vervollkommnung meines Lebens, kann nur in Angriff genommen und mit Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden, wenn ich es wirklich selbst will und mich ernsthaft darum bemühe. Am Anfang muss daher der unbedingte Wille stehen, mein Leben voll zu verwirklichen.

Dieser Wille wird sich zuallererst dahin spezifizieren und darauf konzentrieren müssen, nicht nachzulassen und nicht nachzugeben in dem Bemühen, das Dickicht der mannigfaltigen Elemente meiner Innenwelt, dieses bizarren Innenraums meiner Seele, zu lichten und auf diesem Wege mich selbst zu erkennen. Im Grunde fängt ja auch erst mein wahres Ich, mein Subjektsein beim Willen an. Vorher bin ich herumgestoßenes, außengelenktes Objekt. Ich kann mir noch so selbstherrlich und selbststeuernd vorkommen. Wenn ich nicht jene tiefere Instanz in mir erwecke, die den festen Willen hat, alles zu kontrollieren und in den Griff zu bekommen, was von außen her, aus der Massengesellschaft, auf mich einströmt, und was von unten her, nämlich aus meiner Triebwelt in mir hochkommt, dann bleibe ich ein hin und her geworfener Spielball von Interessen, die höchstens zu einem kleinen Teil meine wahren eigenen und tieferen Interessen sind. Es ist ein erster geistiger Willensakt meines bewussten Ich, meines „Vernunft-Ich“, welches das „Wunsch-“ und „Begierde-Ich“ hinter sich lässt, wenn ich zu mir sage: „So, jetzt hört das auf! Ich will nicht bloß der Kriegsschauplatz meiner gegensätzlichen oder in alle Richtungen laufenden Gedanken und meiner launischen Stimmungen und Wünsche sein. Jetzt entscheide ich mich dafür, Ordnung in diese chaotische Masse zu bringen und ihre unterschiedlichen Bestandteile auf ihren Wert hin zu prüfen.“

Ich beschließe also zunächst eine Bestandsaufnahme alles dessen zu machen, was so in mir vorhanden ist. Alle einzelnen Inhalte, Strebungen und Stimmungen meines seelischen Innenraums und alle meine Handlungen werden besonders unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt beobachtet. Nämlich unter dem Gesichtspunkt der Frage, was sie über mich selbst, meine Lebensausrichtung, meinen Charakter, meine Gesinnung, meine Neigungen aussagen. Mit der Zeit erkenne ich dann aufgrund meines wachen, beobachtenden Bewusstseins, wo bisher der Schwerpunkt meines Wesens lag: auf der Ebene meines „Wunsch-, Begierde-, Rollen-, Massen-Ichs“ oder bereits auf dem höheren Niveau eines ethischen verantwortungsbewussten Ichs.

Die Merkmale des Massen-, Rollen-, Wunsch- und Begierde-Ichs sind weitgehend ähnlich und austauschbar, wiewohl nicht absolut identisch. Beim „Massen-Ich“ handelt es sich im Grunde gar nicht um mein eigenes Ich, sondern, wie der Name andeutet, um das „Ich“ der Masse, um das, was sie will, denkt, tut, wünscht, begehrt. Man merkt auf dieser Ebene der persönlichen Entwicklung, vielmehr und genauer: des persönlichen Stillstandes, gar nicht, wie sehr man mit dem Strom der Masse, der Reklame, der Werbung im Fernsehen, der öffentlichen Meinung, der Stammtisch-„Philosophie“, der Mode der raffinierten politisch-ökonomischen Meinungsmacher, der listigen Konsumanreize und massiven Konsumzwänge mitschwimmt. Man ist ausgenutztes, außengelenktes Objekt der Interessen des Massen-Ich, Sklave, Ausgelieferter. Aber man kann sich angesichts des ungeheuren Konsumangebots, der verschiedenen Modestile usw. ganz toll frei vorkommen, da man doch aus diesem Riesenangebot beliebig (aber eben immer im weitgesteckten Rahmen der Interessen der Massengesellschaft) auswählen und aussuchen kann. Heidegger hat das Phänomen der Massengesellschaft als die Verfallenheit an das unpersönliche, anonyme „Man“ beredt beschrieben. Sehr hart fällt Goethes Urteil über die Masse aus: „Nichts ist widerwärtiger als die Majorität: denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkordieren, aus Schwachen, die sich assimilieren und aus der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.“

Eine klein wenig höhere Stufe stellt das „Rollen-Ich“ dar. Es ist eine gewisse Spezifizierung des Massen-Ich. Man stellt sich die Masse im Allgemeinen formlos, unförmig vor. Aber im Rahmen ihres monströsen Gesamtkörpers erlaubt sie doch, ja braucht sie notwendig gewisse Differenzierungen. Das heißt in Worten: Sie teilt den einzelnen Gruppen und Individuen der Masse gewisse Rollen zu, damit der eigennützige Selbstzweck der Masse umso besser erreicht wird. Oft tritt die Massengesellschaft global als solche gar nicht in Erscheinung, sie begegnet vielmehr dem Einzelnen in Gestalt bestimmter Gruppen, mit denen man sich identifizieren, in denen man eine Rolle übernehmen soll. Es handelt sich, ganz lose aufgezählt, um Nachbarschaftsgruppen, Berufsgruppen, Vereine, Körperschaften, Stadträte, alle möglichen Institutionen, Kreise für Freizeitgestaltung, Parteien, Faschingsklubs usw. usw., im Grunde um alle möglichen, mehrere Individuen umfassenden Vereinigungen innerhalb der Massengesellschaft. Keine dieser Vereinigungen muss ihrem Wesen nach schlecht oder böse sein. Aber oft herrscht in ihnen eine gewisse Ideologie, ein sanfter, vielfach gar nicht massiv-ausdrücklicher Gruppenzwang, dem sich das einzelne Gruppenmitglied unterwerfen muss, gegen dessen meist ungeschriebene Regeln es nicht verstoßen darf. Die persönlichkeitsnivellierende, Kreativität unterdrückende Ideologie der Massengesellschaft schlägt sich in diesen Gruppen nieder. Wer ihnen angehört oder angehören muss, der muss auch gewisse Funktionen in ihnen übernehmen. Funktionen sind noch keine Rollen und können gerechtfertigt sein. Zur Rolle wird eine Funktion, wenn ich unter dem tatsächlichen oder vermeintlichen Druck des Gruppenzwanges mich total oder überwiegend mit ihr identifiziere, ganz oder fast ganz darin aufgehe, diese Funktion zu sein. Denn dann bin ich nur noch Rädchen eines Teilbezirks der „Megamaschine Massengesellschaft“.

Wir allen kennen die Überzeichnungen, Überspitzungen und kabarettistischen Verhöhnungen von Menschen, die nur noch als ihre Rolle herumlaufen: der Public-Relations-Manager, der das Blaue vom Himmel herunterschwindelt, um nur um jeden Preis die Absatzrate der Produkte seiner Firma zu erhöhen und dann auch im Privatleben und in der eigenen Familie von seiner deklamatorischen Tonhöhe und seiner optimistisch-enthusiastischen Mogelei nicht mehr herunterkann. Der fixbesoldete, voll etablierte Beamte, der alles im Dienst wie in seiner Privatsphäre streng und kalt-bürokratisch organisieren und realisieren möchte. Der Jurist, der gar nicht mehr offen, empfangend, wohlwollend, nachsichtig auf Menschen und die Natur zu schauen vermag, sondern nur noch in Paragraphen zu denken vermag, unabhängig davon, was er dadurch, z.B. als Richter oder Staatsanwalt, für ein Schicksal über andere verhängt oder kommen lässt. Der Politiker, dem alles recht ist, Hauptsache, es gelingt ihm, im Volk oder in der Gemeinde Mehrheiten für seine nächste Wahl zustande zu bringen; der alles, auch sein Familienleben, auch seine ethischen Grundsätze, auch am Ende die Achtung seiner Freunde dafür opfert, „oben zu stehen“. Der Schauspieler, der sich die Rollen, die er spielt, derart zu eigen macht, dass er am Ende sich selbst fragt: „Bin ich nun Friedrich der Große (oder irgendein anderer, den er darstellen soll) – vielleicht seine Reinkarnation – „oder spiele ich ihn nur?“ So mancher Schauspieler hat Rollenübernahmen derart zu seinem Metier gemacht, dass er gar nicht mehr anders kann, als auch Frau und Kindern, Eltern und Freunden gegenüber stets in die seines Erachtens gerade gewünschte Rolle zu schlüpfen, so dass man hinter den Hüllen und Hülsen seiner Rollen gar nicht mehr den Menschen, seinen menschlichen Kern zu fassen kriegt. Er scheint sich tatsächlich verflüchtigt zu haben. Der Witzeerzähler, der, um im Mittelpunkt zu stehen, ständig „Humor“ zum Besten geben muss und das Peinliche und Unpassende dieser Haltung in gewissen Situationen nicht mehr abzuschätzen und einzusetzen vermag. Die Presse berichtete vor eignen Jahren von einem berühmten Schauspieler und Humoristen, der so auf Lacheffekte getrimmt gewesen sei, dass er selbst im Ehebett beim Sexualakt immer wieder von Zeit zu Zeit „Kikeriki“ schreien musste. Seine Frau habe das nicht mehr ausgehalten und sich deswegen von ihm getrennt. Aber auch im Rahmen der Familie übernehmen wir oft, und zwar je nach dem Grad des Autoritarismus, der in ihr herrscht, Rollen, so dass wir mitunter gar nicht mehr wir selbst sind.

Genug der Beispiele. Sie zeigen in ausreichendem Maße, dass das „Rollen-Ich“ eine ungeheure Verengung der Persönlichkeit eines Menschen ist. Viele seiner Fähigkeiten, Möglichkeiten und Entfaltungstendenzen werden unterdrückt bzw. gar nicht erkannt. Ein menschliches Individuum identifiziert sich ganz und gar mit einer einzigen oder ganz wenigen Funktionen, die ihm von der Masse oder einem ihrer Teile „angeboten“, meist aber mehr oder minder aufgedrängt worden sind. Ein zu enger Anzug, von der Massengesellschaft dargereicht, muss angezogen werden, und das Leben, das Menschsein darin verkrampft, verkümmert, geht verloren. Trotzdem ist das „Rollen-Ich“ in gewisser Hinsicht eine kleine Qualitätsstufe höher anzusetzen als das „Massen-Ich“. Denn unter Umständen, wenn auch nicht durchgehend, ist es doch so, dass sich das „Rollen-Ich“ in gewissen Fällen seine Rollen aussuchen kann. Es ist in seiner Entscheidung zwar nicht wirklich frei, denn einerseits ist das Rollen-Angebot seitens der mit vielfältigen, raffinierten Zwängen arbeitenden Massengesellschaft für jeden Einzelnen sehr beschränkt und andererseits folgt auch das menschliche Individuum in seiner Wahl einer bestimmten Rolle unbewussten oder unterbewussten Neigungen, Trieben, vom Zeitgeist befürworteten oder geförderten Wünschen. Aber eine gewisse Vertiefung des „Massen-Ichs“ in Form einer Quasi-Wahl und -entscheidung ist prinzipiell im „Rollen-Ich“ doch gegeben.

(Fortsetzung folgt)

Erscheinungsdatum: 05.06.2023