abgedruckt in Neues Deutschland Aug. 2009

Kirche, Religion und Atheismus bilden auch in Polen des 21. Jahrhunderts eine schwierige und brisante Gemengelage.

Das Deutsche Polen-Institut Darmstadt widmet diesmal sein Jahrbuch dem Thema Religion* Dieses finanzkräftige, staatlich geförderte Institut kann es sich viel eher als ein polnischer Verlag leisten, ein solches Jahrbuch mit Beiträgen renommierter polnischer Wissenschaftler, Schriftsteller, Publizisten und Redakteure herauszubringen und die sicher nicht geringen Kosten auch für die Übersetzer der mit zwei Ausnahmen nur polnischen Beiträge zu übernehmen.

Herausgekommen ist ein sehr gut recherchierter hoch informativer, umfassender Bericht über die katholische Kirche in Polen., ihre Situation zwischen Diktatur und Demokratie, Tradition und Säkularisierung, über die Kirche und die Frauen, über das Verhältnis dieser Kirche zu den Juden, dem Islam, dem Atheismus, zur polnischen Kunst und zu den Minderheitskirchen (orthodoxe, evangelische und reformierte Kirchen). Hinzu kommt ein Gespräch zwischen einem Deutschen und einem polnischen katholischen Theologen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem Polnischen und dem deutschen Papst, also zwischen Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Die zwölf Sachbeiträge des Jahrbuchs werden zudem noch durch sieben Literaturbeiträge – Gedichte und Erzählungen – ergänzt, die mit dem Thema des Jahrbuchs höchstens entfernt etwas zu tun haben und allesamt nicht speziell für dieses konzipiert wurden, vielmehr für andere Editionen zwischen 1993 und 2007 geschrieben wurden und dort auch erschienen sind.

Inhaltlich besehen belegt das Jahrbuch die weiterhin bestehende starke Dominanz und Präsenz der katholischen Amtskirche in Polen. dies trotz der risse im polnischen Episkopat zwischen stockkonservativen, mit dem Propagandasender Radion Maryja sich identifizierenden Bischöfen auf der einen und progressiveren (nicht progressiven!) Ordinarien auf der anderen Seite, trotz diverser Klassenunterschiede im gläubigen Volk, trotz oft sehr oberflächlicher Aneignung der dogmatischen Inhalte des Glaubens durch die Kirchgänger bei dennoch kräftigem Ja zum Katholizismus. Bezeichnend für den Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik: “Der Chef der regierenden Liberalen Partei Donald Tusk, derzeit Ministerpräsident, hielt es, als er 2005 bei den Wahlen um das Amt des Präsidenten der Republik Polen antrat, für angezeigt, kirchlich zu heiraten, obwohl er in 27 Jahren Ehe ohne diese Formalität ausgekommen war.“ (Andrzej Oseka: Atheismus nach dem Kommunismus. Jahrbuch S. 118)

Zwar behauptete am 9. Februar 2008 die angesehene Zeitschrift „Polityka“, dass immer mehr junge Polen die katholische Kirche auch formell verließen, ja, sie sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer „regelrechten Apostasie-Mode“, aber dieses polnische Austrittsphänomen ist im Verhältnis zu den Kirchenaustrittszahlen im Westen eher geringfügig. Zwar spricht sich auch, trotz aller Anhänglichkeit an die katholische Kirche eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung gegen die Einflussnahme dieser Institutionen auf Politik und öffentliches Leben aus, aber das bewirkt keineswegs, dass vom Episkopat etwas unternommen wird, um den eigenen Einfluss sowie im Verhältnis zu den christlichen Minderheitskirchen zurückzuschrauben. Eine Gruppe national-katholischer Abgeordneter startete Ende 2006 die Initiative, Christus zu einem Parlamentsbeschluss zum König von Polen zu erklären. Schließlich habe 966 die „Taufe Polens“ stattgefunden, womit Polen zu einem polnischen Staat geworden und der Herrschaft Christi unterworfen sei, sodass polnische Nation und katholischer Glaube eine unauflösliche Einheit bildeten. Das ging dann sogar einigen polnischen Bischöfen zu weit. Man hat ja schließlich schon die Gottesmutter Maria als Königin Polens.

Selbst der viele interessante Details bringende und um Neutralität bemühte Beitrag über Atheismus kann sich eines Seitenhiebs gegen Letzteren nicht gänzlich enthalten: „Wir wissen immerhin sehr gut, wie die Welt aussah, aus der die Religion entfernt worden war.“ Da fehlt dem Rezensenten doch entschieden der Hinweis auf die Art und Weise, wie die Welt aussah, als die katholische Religion unumschränkt herrschte und Gott die Legitimitätsbasis für die ununterbrochene Verfolgung von „Hexen“, Ketzern, Sektierern, Mystikern, Schismatikern, Apostaten, ja ganzen Stämmen und Völkern bildete. Kein Wunder also, dass im katholischen Klima Polens sich nur relativ wenige zu einem Coming out bereit erklärten. Auf der „Internetliste der Atheisten und Agnostiker Polens“ finden sich – zur Zeit der Drucklegung des Jahrbuchs – gerade mal 8233 der Ersteren. 2804 der Letzteren, dazu noch etwa 1000 Personen, die sich als grundsätzlich nicht-gläubig angeben. Manche haben sich nur mit Vornamen, Beruf und Ortsbezeichnung in die Liste eingetragen, weil sie Behinderungen und Schikanen fürchten. Einer dieser anonymen Unterzeichner rechtfertigt sich mit folgendem bezeichnenden Kommentar: “Das öffentliche Bekenntnis zum Atheismus ist hier gleichbedeutend mit der Verkündigung, man sei mit HIV infiziert.“

Dabei ist die Kirche selbst mitschuldig daran, dass einige atheistische Systeme zusammen mit der Abschaffung des Gottesglaubens auch gleich die Moral beiseite räumen wollten. Standen doch auch sie unter dem Eindruck und Einfluss der ständig – von den Kirchenfürsten gepredigten Devise, dass alle Moral nur eine Konsequenz des
Gottesglaubens darstelle, dass ohne diesen keine Moral möglich sei. Da die Kirche für sich die Moral okkupierte, sich mit der Moral gleichsetzte, schien für manche politische Variante des Atheismus der Schluss konsequent: Also müssen wir auch die Moral selbst abschaffen und durch etwas Neues ersetzen. Das Ganze beweist nachdrücklich die absolute Notwendigkeit einer kirchen- und religionsunabhängigen Ethik, die ihre Normen allein aus der Vernunft und den sozial-anthropologischen Gegebenheiten ableitet.

Das Jahrbuch über Religion in Polen zeigt auch äußerst plastisch, wie sehr die Dominanz der katholischen Kirche immer noch gleichbedeutend mit Priesterherrschaft ist. Die Bedeutung und Mitsprache der Laien in der Kirche sind im Vergleich zu den Kirchen Westeuropas minimal. Die Herde folgt im Großen und Ganzen noch immer willig ihrem Hirten, stellt die Kirche nicht in Frage, schaltetet Reflexionen oder gar Zweifel über sie einfach ab. „Die Herausbildung von Intellekt ist leider keine Stärke diverser kirchlichen Gruppen und Seelsorgeeinrichtungen“, stellt Grzegorz Pac in seinem Beitrag zum Jahrbuch schon fast resigniert fest.

Priester– und Bischofsskandale im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen werden von den Gläubigen in Polen zwar genüsslich kolportiert und ausgewalzt, führen dort aber nicht zu Austrittswellen aus der katholischen Kirche wie etwa in den USA, Österreich oder Irland, stellen die Autorität des Klerus auch keineswegs in Frage. Kirchenvolksbegehren gegen die Hierarchie und ihre selbstherrlich aufgestellten Normen, Regeln, Kirchengesetze? In Polen ein Unding! Der „Aufstand der Frauen in der Kirche“, Priesterweihe von Frauen? Totale Fehlanzeige in Bezug auf die polnische katholische Kirche. Der formal sehr schön geschriebene Jahrbuch-Beitrag “Die Kirche und die Frauen im heutigen Polen“ von Monika Walus ist inhaltlich eine einzige Apologie der amtskirchlichen Lehre, die den Fraen alle Privilegien des Mannes verweigert. Geradezu hymnisch kling die Walus'sche Verteidigung der Aussagen Papst Johannes Pauls II., in denen er die Würde der Frau, ihre Vorzüge als Mutter und Erzieherin der Kinder preist, gleichzeitig ihr aber das Recht auf Priesterweihe sozusagen ex cathedra definitiv abspricht. Wenn polnische Katholikinnen“ von evangelischen Frauen oder Feministinnen gefragt werden, warum sie denn in einer Kirche seien, in der es keine Priesterweihe für Frauen gibt, dann antworten sie häufig, dass dieses eben ihre Kirche sei, nicht nur die Kirche, in die sie hineingeboren seien, sondern auch die Kirche, welche sie aus freien Stücken erwählt hätten“. Diese Aussage von Frau Walus über die polnischen Katholikinnen zeigt leider überdeutlich, wie sehr diese noch von echter Freiheit und Gleichberechtigung mit den Männern in der Kirche entfernt sind, ja, dass sie auch noch ihre Unfreiheit für eigene Entscheidungsfreiheit halten.

Auch die kritischeren Beiträge des Jahrbuchs wagen keinerlei Einwände zu den beiden obersten Priesterherren der letzten Jahrzehnte, Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Die Autoren hätten eben doch weitere Literatur hinzuziehen sollen, etwa die auch ins Polnisch übersetzte Publikation des Rezensenten „Der polnische Papst“ sowie das Buch „Papst-Entzauberung“ vom selben Autor, das sich nüchtern-ernüchternd mit dem Ratzinger-Papst befasst. Ein Schlaglicht auf das Verhältnis der Polen zum Papst warf der Diskussionsbeitrag eines polnischen Studenten anlässlich eines Vortrags des Rezensenten in Warschau über Johannes Paul II.: „Die Entmythologisierung des Wojtyla-Papstes wird in Polen mindestens noch 75 Jahre dauern“, betonte er unter Zustimmung aller Anwesenden.

Es liegt nicht so sehr an den Beiträgen zu diesem Jahrbuch, sondern eben vor allem an der dominierenden, alles beeinflussenden Rolle der katholischen Kirche in Polen, dass das Thema dieses Bandes im Grunde verfehlt wurde. Die Religion im Polen des Jahres 2009 sollte behandelt werden, stattdessen drehen sich alle Sachbeiträge des Jahrbuchs um die katholische Kirche. „Jahrbuch Polen 2009: Kirche“ hätte sein Titel lauten müssen. Den Herausgebern und Autoren des Bandes ist nicht einmal aufgefallen, dass sie Religion und Kirche gleichsetzen, dass sie erstere unabhängig von Kirche überhaupt nicht behandelt haben. Kein Wunder, dass der polnische Otto Normalverbraucher, nach seiner Religiosität befragt, sofort ausschließlich an seine Zugehörigkeit ode Nichtzugehörigkeit zur katholischen Kirche denkt.

Dabei zerstört perfekt institutionalisierte, hochorganisierte Religion stets das Anliegen echter Religiosität. Religion pervertiert sich ab dem Moment, wo staatliche Fördermittel und Privilegien gefordert werden. Endpunkt dieser Entwicklung: die Staatskirche (evangelisch und katholisch), die wir in Deutschland haben. Die zarte Pflanze echter innerer Religiosität stirbt ab, wenn sie zunehmend institutionalisiert, bürokratisiert, durchorganisiert und damit auch allen möglichen politischen Zwecken unterworfen wird.

Hätten sich die Autoren des Jahrbuchs für das Phänomen eigenständiger Religiosität offen gehalten, es wäre ihnen aufgefallen, dass es dieses Phänomen auch in Polen gibt. Zwar verborgen unter der Schicht offiziell verordneter kirchlicher Religion, zwar verkrümmt und verbogen durch dogmatische Begrifflichkeiten, existiert es gebrochen durch vielerlei Gebote munter weiter als „heidnische Religiosität“, die – gerade in Polen – Maria als die Allmutter allen Lebens viel mehr verehrt als den kalten Gottvater des kirchenamtlichen Christentums, die den Heiligen Antonius, Franziskus, Bonifatius, den hl. Frauen Anna, Klara, Cäcilia etc. praktisch als Göttinnen und Göttern mit einer Inbrunst huldigt, die ihresgleichen sucht. Ein Jahrbuch, das der Religion gewidmet ist, muss diesen vielfältigen Facetten und Fragmenten elementarer Religiosität – durch kirchliche Begriffs- und Deutungshoheit als Aberglauben, ja, Afterglauben, als Exotismus und Okkultismus abgewertet und verspottet - im Sinne echten Spurenlesens nachgehen, darf sich nicht nur an die Oberflächenschicht offiziell verordneter Religion halten.

Es fehlt im Jahrbuch des Weiteren jede Spur eines Hinweises auf Sekten, die es auch in Polen gibt, auch auf innerkirchlichen Sekten wie Opus Dei, das einen so gewaltigen, aber auch gefährlichen Einfluss auf Kirche, Vatikan und die letzten beiden Päpste ausübte, zu deren Wahl es beigetragen hat. Das hätte sich schon deshalb nahegelegt, als der Wojtyla-Papst bereits als Erzbischof von Krako´w engste Kontakte zu dieser praktisch schon das kalte Herz der Kirche bildenden Geheimorganisation unterhielt.

Ein Jahrbuch über Religion in Polen hätte auch das Niveau der polnischen Theologie im Vergleich zur westlichen Theologie reflektieren müssen. Die Defizite in Bezug auf die historisch-kritische Methode bei der Erforschung der mitunter gegensätzlichen Varianten des frühen Christentums liegen hier offen zutage, verständlich, wenn man an den Eisernen Vorhang denkt, durch den die polnische Theologie von der westlichen lange Zeit abgeschnitten war.

Das Jahrbuch wird dem Thema Religion nicht gerecht, stellt aber als Information über den polnischen Katholizismus eine sehr reichhaltige Fundgrube dar.

*) Jahrbuch Polen 2009; Religion. Herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt. Harrassowitz Verlag.