Martin Luther ist kein Reformer, nicht der momentan in Publikationen, Film und Fernsehen wieder so gefeierte und hoch gelobte Reformator, sondern ein fanatischer Fundamentalist, der im Namen der „Heiligen Schrift“ und des Bibelgottes alles niederwalzt, was ihnen zu widersprechen scheint. Selbst die Philosophie und die Philosophen aller Zeiten und Zonen bekommen seine Wut zu spüren. »Ich wenigstens glaube, Gott diesen Gehorsam zu schulden, gegen die Philosophie wüten (...) zu müssen.« Denn die ganze Philosophie seit Aristoteles sei Menschenwerk, versuche Gott durch eigene denkerische Leistung zu erreichen oder zu begründen, und das sei Hochmut und falsche Selbstsicherheit. Wie der Mensch in seinem totalen Sündersein nichts könne, so könne auch die ebenso wie der ganze Mensch verdorbene (philosophische) Vernunft gar nichts. Hier rächt sich Luthers Verachtung der Philosophie, der reinen Vernunfttätigkeit an ihm selbst. Denn da die Natur des Menschen ihm zufolge total verdorben ist, ist es auch die zu dieser Natur gehörige menschliche Vernunft. Diese kann dann auch keine gerechten Urteile rechtsphilosophischer und moralphilosophischer Art mehr fällen. Damit gibt es dann logisch-konsequenter Weise bei Luther auch keine vernünftige Begründung mehr für das, was seine »Kirche« oder der Staat als Norm und Gesetz aufstellt. Normen, Gesetze, Anordnungen, Befehle dieser Institutionen können reinste Willkür, purer Despotismus sein. Sie brauchen keine innere Begründung in der Vernunft des Menschen zu haben. So entmündigt Luther den Menschen, indem er sein edelstes Organ, die Vernunft, verketzert und die Philosophie zur »Hure« herabwürdigt. Damit desavouiert er am Ende aber auch seine eigene Lehre und seine Verurteilungen anderer Lehren. Denn eine vernünftige Begründung und Akzeptanz seiner Lehre und seiner Verdikte gegen andere kann es nun nicht mehr geben, da ja die Vernunft bei dieser Begründung und Akzeptanz keine Rolle spielen darf. Ist sie doch nach ihm bei allem wahren Erkennen heillos fehl am Platz.
Klar, dass Luther dann auch den Humanismus ablehnt und verketzert, denn auch dieser hält ja wie die Philosophie viel von der Vernunft des Menschen. Gegen den großen Humanisten Erasmus von Rotterdam wütet Luther fast ebenso furchtbar wie gegen Thomas Müntzer: »Ebenso wie Erasmus habe ich auch Müntzer getötet; sein Tod liegt auf meinem Hals« . Merke: Die „Reformation“ Luthers ist »anti-rational« und »anti-humanistisch«, da sie von den Fähigkeiten und der Schöpferkraft des Menschen nichts hält.
In seiner Maßlosigkeit entwertet Luther in gravierendster Art und Weise die menschliche Vernunft. Sie sei als Prinzip des Erkennens (principium cognoscendi) blind (caeca), völlig verblendet (excaecata).
Sie könne nicht zur Erkenntnis Gottes und des Guten (Dei et boni) gelangen, die eigentliche Wahrheit (veritas) bleibe ihr verschlossen. In seiner Auseinandersetzung mit dem Humanisten Erasmus hält er sie sogar für ein »erdichtetes Trugwerk«, für eine im wesentlichen immer irrende Vernunft (errans ratio). Zwar war die Vernunft einmal Luther zufolge etwas Großartiges, nämlich vor dem Sündenfall Adams und Evas, und es sieht fast so aus, als ob Luther ihre damaligen Vollkommenheitsattribute um so glänzender charakterisiert, je mehr er sie als »lapsa« (als gefallene Vernunft) nachher um so tiefer in den Abgrund totaler Verderbtheit herabzustoßen gedenkt. Sie sei vor dem Ursündenfall von allen Gottesgaben die größte gewesen, sie war jene Potenz, die auch den Engeln eignet (quae in angelis quoque est), sozusagen etwas Göttliches im Urmenschenpaar (divinum quiddam), eine »Sonne und Gottheit gewissermaßen« (Sol et Numen quidam). Kurzum: Im Urstand hatte der Mensch den schönsten und glänzendsten Verstand (pulcherrimum et clarissimum). Und er hat ihn nach Luther auch nach dem Sündenfall behalten, wenn es um den unseren Sinnen zugänglichen irdischen Erfahrungsbereich geht, was der „Reformator“ aber später wieder abschwächt, weil die nunmehr in Bezug auf alle wahre Erkenntnis, alle Sinn- und Gottessuche total korrumpierte und unvermögende Vernunft verständlicherweise auch negativ auf diesen Bereich zurückstrahle, so dass der Mensch selbst auf dem Gebiet der Prinzipien und Handlungsanweisungen für das menschliche und weltliche Zusammenleben ständig Fehleinschätzungen unterliege.
Derart schrecklich (horribilis) sei der Fall der Urmenschen gewesen, dass wir durch ihn die überaus herrlich erleuchtete Vernunft verloren haben (amisimus pulcherrime illuminatam rationem) und nicht mehr erkennen können, was Gott will und vorschreibt (quae Deus vult et praecipit) (WA XLII 106). Die Vernunft hat sich von einer erleuchteten Dienerin des Geistes Gottes zu einer »Teufelshure« und »Teufelsbraut«, zu einem lästerlichen Weibstück, »Frau Hulda«, zu einer Gegnerin Gottes pervertiert. Sie sei nun konstitutiv »Widersacherin Gottes« und seines heiligen Willens und könne im Grunde nur noch »blinde Finsternisse« vermitteln. Das »Spekulieren« über Gott und die tragenden ontologischen und ethischen Grunderkenntnisse und -werte des menschlichen Lebens, dieses »Erklügeln«-Wollen der Wahrheit über Gottes und unseren Willen gehe grundsätzlich in die Irre und Leere. Die natürliche Vernunft sei in dieser Hinsicht nichts, total nichts. Sie könne nichts beweisen, nichts zeugen oder bezeugen, »es ist lauter nichts. Ja, was soll mir's dann, wenn's nichts ist? Ja, es ist nichts, wenn du deine fünf Sinne drum fragst und deine Vernunft und deine Weisheit zu Rate nimmst.« Denn es ist nach Luther nun »der Vernunft Natur und Eigenschaft«, gegen Gott und seinen Willen zu sein, weshalb Gott die menschliche Vernunft damit bestraft, dass er sie entleert, ja »nichtet«.
Gerade die Philosophie, die ja sozusagen das Organ der höchsten Erkenntnisse darstellt, zu denen die Vernunft des Menschen befähigt ist, wird also von Luther besonders verteufelt. Der Fleiß und Eifer der Philosophen um die Wahrheit sei anzuerkennen, aber diese selbst hätten sie nie erkannt. Sie können sich Luther zufolge noch so sehr ihrer eigentlichen Aufgabe, der vernünftigen Wahrheitserkenntnis, widmen, sie erreichen die Wahrheit nie. Die antiken Klassiker der Philosophie, Plato und Aristoteles, deren Gedankensysteme jedem Humanisten auch heute noch zu imponieren vermögen, finden in Luther einen hasserfüllten Gegner. Für die Theologen des Mittelalters, auch seinen größten, Thomas von Aquin, galt Aristoteles als höchste philosophische Autorität. Im Anschluss an ihn qualifizierten die Theologen der Scholastik die ratio naturalis, die natürliche Vernunft, als im Prinzip »bona« (gut). Dagegen wütet Luther: Die Scholastiker sähen nicht das Faktum der Sünde, meint er, deswegen übersähen sie, dass die natürliche Vernunft »voller Unkenntnis Gottes und Aversion gegen den Willen Gottes« sei (plena ignorationis Dei et aversionis a voluntate Dei). Gegen das scholastische Axiom, ohne Aristoteles und seine Philosophie könne man kein rechter Theologe sein, giftet Luther: »Ein Theologe kann man nicht werden, wenn dies nicht ohne Aristoteles geschieht« (theologus non fit nisi id fiat sine Aristotele). Im Grunde führe Philosophie, gerade wenn sie sich um die höchsten Wahrheiten bemühe, somit usurpatorischerweise Theologie betreibe, nur zu einem »Chaos der Irrtümer« (chaos errorum), zu inhaltslosen metaphysischen Erwägungen (cogitatio metaphysica), ja zu eitler Gotteslästerung. Gerade da, wo die Philosophen und Humanisten mit Hilfe ihrer Philosophie die Willensfreiheit zu beweisen versuchen, philosophieren sie sündhaft gegen die Theologie (impie philosophantur contra Theologiam), und das ist Luther zufolge ein gemeiner Betrug (fallacia). Philosophie habe sich nur den sichtbaren, nicht den wahrhaft unsichtbaren Dingen (vero invisibilia) wie die Theologie zu widmen. Ihre Logik, ihre Syllogismen könnten die Ebene des Bezirks der Theologie (termini divini) nie erreichen. Allein der Versuch in dieser Richtung sei schon Anmaßung und Hybris. Kaum etwas zeigt nach Luther deutlicher das Versagen der Philosophie als die Tatsache, dass eine so lange Reihe erlauchter Denker viele Jahrhunderte lang »in das Lob und den Ruhm des freien Willens« (in Iaudem et gloriam liberi arbitrii) einstimmten. Aber das sei auch zu erwarten gewesen, weil die These, Gott gegenüber sei der menschliche Wille nicht frei, in höchster Weise das allgemeine Empfinden oder die natürliche Vernunft (quam maxime sensum illum communem seu rationem naturalem) beleidige.
Da nach Luther die natürliche Vernunft die Wahrheit über das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Willen weder verstehen noch ertragen kann (neque capere neque ferre), pervertiert sie diese Wahrheit und stürzt diejenigen, die sich ihr anvertrauen, in den »abgrund der Hellen«. Daher gebe es keine gefährlichere Sache (»kain faerlicher ding«) unter allen Gefahren auf Erden als die königliche, herrscherliche Vernunft (domina ratio). Wer der natürlichen Vernunft folgt (»der vernunfft nach wil«), der stürzt in völliges »dunckel«. Leere und sündige Gedanken (vanas et impias . . . cogitationes) gebe dann die menschliche Vernunft als die reine Wahrheit selbst (ipsa veritas) aus.
Luther entwertet die Vernunft aber nicht nur »in divinis«, in Richtung auf das Göttliche, auf die Erkenntnis der höchsten Seins-, Wert- und Sinnprinzipien. Er vermindert ihren Wert wesentlich sogar auf dem Gebiet, den er ihr selber zugewiesen hat, also im Bereich der irdischen Realitäten. Auch das innerweltliche Erkenntnisvermögen der menschlichen Vernunft sei entstellt und pervertiert, auch bei ihren Urteilen über die irdischen Wirklichkeiten und Angelegenheiten wisse sie im Grunde nicht, »was und worüber sie spreche« (quid aut de quo loquatur), weil sie in sich befangen, Gefangene ihrer eigenen Weisheit sei, weil sie ein verkehrtes Gottesverhältnis habe, weil sie sich fälschlicherweise als letztgültigen Maßstab aller Dinge auffasse und aufspiele. Somit sei sie letztlich auch nicht legitimiert, oberste weltliche Instanz zu sein. Nicht nur in den das Heil betreffenden Dingen sei die menschliche Vernunft erkenntnisunfähig, auch in den Angelegenheiten und zu erforschenden Tatbeständen dieser Welt sei sie permanent und notwendig Fehlern, Fehlerkenntnissen, Fehlbeurteilungen unterworfen.
Es gibt wohl kaum einen Religions-, Konfessions- oder Sektengründer, der einen wilderen Irrationalismus als Luther lehrte, der die natürliche Vernunft des Menschen derart hasste, reduzierte und entwertete. Bedenkt man, dass diese natürliche Vernunft auch eine notwendige Grundlage und unabdingbare Voraussetzung demokratischer Staaten und Gesellschaften ist, dann sieht man hier wieder die eminente Gefahr, die von Luthers Bild des Menschen und seiner Erkenntniskräfte ausgeht. Streichen wir die Vernunft des Menschen, sein Vermögen, den Wirklichkeitsgehalt der Dinge wenigstens annähernd richtig zu erkennen, Gut und Böse zu unterscheiden, vernünftige Gesetze zu schaffen und als in ihrer Legitimität eingesehene zu befolgen, dann versinken wir im Chaos der Anarchie oder landen in den Fangarmen menschenfeindlicher Diktaturen.
Absolutistische Diktatoren in ihrem Herrschaftsbereich waren ja zur Zeit Luthers die Fürsten, und die stellten ihn unter ihren Schutz, weil sie erkannt hatten, dass er in Wirklichkeit kein Mann des Volkes und auch kein Mann der Vernunft und Humanität war, sondern den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit zum absoluten Prinzip erhoben hatte, egal, ob diese Obrigkeit nun rational oder irrational, moralisch oder unmoralisch agierte.
Vorbild- und Modellcharakter könnte Martin Luther im Grunde nur in einer Hinsicht haben: als agitatorisch-demagogischer Anti-Philosoph par excellence. Nietzsche nannte ihn bekanntlich „ein Unglück von einem Mönch“, ein Heutiger, im Moment einer der bekanntesten Popularisatoren der Philosophie im deutschsprachigen Raum, bezeichnet ihn als „einen widerlichen Gesellen, einen Verbrecher an der Menschheit. Den haben wir noch nicht richtig aufgearbeitet. Wir gehen mit Luther um, als sei er ein ‚Heiliger‘ der evangelischen Kirche. Er war aber ein für die damalige Zeit untypisch aggressiver Antisemit, frauenverachtend bis ins Mark und vom Denken her völlig mittelalterlich. Teufel war sein Lieblingswort. Die Gesellschaft war sehr viel weiter.“

Erscheinungsdatum: 08.12.2017