Keine Spur von Historizität – Mythos und Traum an der Wiege des Christentums
Zum Grundlehrstoff jeder christlichen Unterweisung gehört seit eh und je der vermeintlich riesengroße Unterschied zwischen den Phantasiegebilden der heidnischen Sagen und der Historizität der christlichen Stiftungsgeschichte.
Gerade beim »Urfaktum« des Christentums aber, der vorgeblichen Zeugung Jesu durch den Geist Gottes im Schoße einer Jungfrau, gibt es überhaupt keinen Unterschied. Zahlreiche dogmatische Erklärungen und gewichtige theologische Traktate belegen die Wichtigkeit der Sache. Nach dem »Kirchenlexikon« von Wetzer und Weite »ruht der ganze Schwerpunkt des Christenglaubens auf der Tatsache, dass Maria als Jungfrau empfangen und geboren hat, durch Einwirkung des Heiligen Geistes befruchtet. Alles, was weiter von der Entsündigung und Befreiung unseres Geschlechtes durch das Blut Jesu Christi >als des unbefleckten Lammes< gelehrt und geglaubt wird, stützt sich auf dieses Factum«.1
Im Herzen des Glaubens steckt also nicht das Christlichste, sondern das Heidnischste! Denn von unberührten Jungfrauen, die göttliche Erlöserkinder gebären, wimmelt es nur so in den nichtchristlichen Religionen und Mythologien. Das berühmte »Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament« von Gerhard Kittel betont sogar ganz allgemein und universal: »Der Erlöserkönig erscheint überall als Jungfrauensohn.«2 Und die nicht minder bekannte Enzyklopädie »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« bestätigt: »Der Gedanke der Jungfrauengeburt eines Gottes, Heros oder Heilbringers ist außerhalb des Christentums überraschend weit verbreitet.«3 Im Buddhismus geht Buddha als weißer Elefant in den Leib der Maya ein, aus ihrer Seite wieder heraus. In der griechischen Mythologie empfängt Danaë im Goldregen von Zeus den Perseus, Alkmene empfängt von Zeus den Herakles, Semele den Dionys. In der ägyptischen Religion zeugt der Gott Amon-Re in der Gestalt des ägyptischen Königs mit dem Menschenweib das Gottwesen des Thronfolgers. Auch babylonische Könige und römische Kaiser werden als von Göttern gezeugt betrachtet.
Besonders ist es jedoch die griechische Religion, die so stark die Jungfräulichkeit der von einem Gott geschwängerten Mutter hervorhebt. Gerade bei diesem entscheidenden Urfaktum der übernatürlichen Jungfrauengeburt ist das Christentum am wenigsten originell, übernimmt es den ganzen Inhalt und Motivzusammenhang der Angelegenheit aus dem Heidentum.4 Selbst die Form der Ankündigung der Geburt des göttlichen Kindes aus der Jungfrau-Mutter hält sich weitgehend an heidnische Vorlagen. So heißt es in einer persischen Mythe: »Herrin, sprach eine Stimme, der große Helios hat mich abgesandt zu dir als Verkünder der Zeugung, die er an dir vollzieht ... Mutter wirst du eines … Kindleins, dessen Name ist >Anfang und Ende<«.5
Die in den meisten Jahrhunderten seines Bestehens vorherrschende Natur- und Leibfeindlichkeit des Christentums hat hier einen ihrer Gründe. Denn die manneslose Zeugung eines Gottmenschen in einer Jungfrau hängt ja auch mit gewissen rituellen und moralischen Negativwertungen des Zeugungsaktes, der Ehe, der Sexualität, des Koitus zusammen. Indem das frühe Christentum die heidnischen Muster der Geburt eines göttlichen Menschen aus einer Jungfrau kopierte, übernahm es natürlich auch die damit verbundenen leib- und sexualfeindlichen Vorstellungen. In der griechischen Religion kommt es in höchstmöglicher Steigerung dieser Feindlichkeit sogar zum Mythos der mutterlosen Geburt von Gottwesen, womit das Weibliche, Mütterliche, Geschlechtliche endlich ganz ausgeschaltet oder verdrängt wäre. Athene ist eine mutterlose, jungfräuliche Göttin ebenso wie Nike. Beide entsteigen einfach dem Kopf des Zeus, des Herrn aller Götter. Aber auch der Gott Mithras, die Göttinnen Pallas und Aphrodite sind mutterlos Geborene.
Selbstverständlich gibt es einige Theologen, die solche Zusammenhänge diskutieren und den heidnischen Einfluss in einer so fundamentalen Sache wie dem Urbeginn des Christentums verringern möchten. Während etwa Kardinal Höffner, drittletzter Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, noch in aller Schlichtheit behauptete, wenn Jesus einen menschlichen Vater gehabt hätte, dann wäre er nicht »wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich«6, und sein noch konservativerer Nachfolger auf dem Kölner Erzbischofssitz, Joachim Kardinal Meisner, noch die Jungfrauengeburt Jesu zum A und 0 seines gesamten Glaubensgebäudes machte7, bauten pfiffigere Theologen wie ein Joseph Ratzinger schon umsichtig vor. Zu einer Zeit, als er noch nicht einmal Bischof, geschweige denn oberster vatikanischer Glaubenswächter und später Papst war, begriff er schon, dass der Aufklärungsprozess der Neuzeit am Ende auch bei den eigenen Gläubigen nicht haltmachen würde und die antiquierte Wunderbiologie einer manneslosen Zeugung nicht aufrechterhalten werden kann. So formulierte er schon 1968 tiefsinnig zum Thema: »Die Gottessohnschaft Jesu beruht nach dem kirchlichen Glauben nicht darauf, dass Jesus keinen menschlichen Vater hatte; die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre. Denn die Gottessohnschaft, von der der Glaube spricht, ist kein biologisches, sondern ein ontologisches Faktum; kein Vorgang in der Zeit, sondern in Gottes Ewigkeit.«8
Voila, das ist die hohe theologische Kunst der Dialektik ... Hier liegt auch ein Grund für das biologische Wunder des Überlebens der Kirche seit zwei Jahrtausenden trotz aller ihr Schwarz auf Weiß nachgewiesenen Irrtümer, Fehler, Unwahrheiten, Lügen. Wenn man mit irgendeinem Dogma in Beweisnot gerät, dann wird die Waffe der sublimen und subtilen Abstraktionskunst gezückt: »Mein Freund, du denkst darüber viel zu erdhaft, weltlich, menschlich, materialistisch, eben biologisch! Du musst das Ganze in tiefer und wahrer Glaubensbereitschaft auf einer höheren, geistigeren, mystischen, überweltlichen Ebene sehen, eben ontologisch, dem wahren Sein, dem Tiefenwesen der Dinge angemessener! Wenn du das so nicht zu sehen vermagst, dann sage es wenigstens nicht und schweige demütig. Man müsste sonst annehmen, dass dir die Gnade, der übernatürlich erleuchtete Verstand für das Höhere und Heilige fehlt.«
Selbst eine kritische katholische Theologin wie Uta Ranke-Heinemann war von Ratzingers Aussage (»nicht biologisch, ontologisch!«) so begeistert, dass sie sich bei ihrem Streit mit der deutschen Kirchenhierarchie rund um die Frage der Jungfrauengeburt Jesu flehentlich um Hilfe an den inzwischen zur Kardinalswürde avancierten Ratzinger wandte — was natürlich nichts nutzte. Aber man sieht auch, wie Ratzinger, 1968 noch nicht Bischof, nicht Kardinal, aber sprungbereit zu jeder kirchlichen Würde, sich vorsichtig absicherte: »... wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre«. Ist er aber nicht, er war ja ein uneheliches Kind. Pardon: Gottessohn, übernatürlich gezeugt!
Trotz der geschickten, vorbauenden Dialektik Ratzingers hat sich seine subtile Unterscheidung zwischen biologischem und ontologischem Faktum bei den Kirchenoberen noch keineswegs voll durchgesetzt. Wenigstens in dieser einen Hinsicht sind sie mit dem Wojtyla-Papst an der Spitze noch zu erdhaft-schwerfällig und bleiben bei ihrer »Biologie«, dass Maria keinen Mann »erkannt«, dass allein Gott selbst in seiner dritten Person als Heiliger Geist das Zeugungswunder bewirkt habe. Noch im Streit des katholischen Theologen Drewermann mit seinem Paderborner Erzbischof Degenhardt bestand der letztere auf dieser dogmatischen Position. Die Zeit ist einfach noch nicht reif, aber bei weiterer Schleifung kirchlicher Bastionen wird das kirchliche Lehramt dankbar auf Ratzingers Unterscheidungsausweg zurückkommen — nicht ohne zu betonen, dass man die Sache ja im »Wahren, Eigentlichen und Tiefsten« immer schon so verstanden und gelehrt habe.
Aber, wie gesagt, so weit ist man im Großen und Ganzen heute noch nicht, weder in Rom noch in Paderborn, amtskirchlich gesehen, versteht sich, denn von den an staatlichen Universitäten lehrenden und deshalb auf ein rationales und wissenschaftliches Auftreten verpflichteten Theologen glaubt kaum ein einziger mehr an die Zeugung Jesu durch den Heiligen Geist. Drewermann seinerseits erklärt nicht bloß dieses christliche Urfaktum, sondern gleich alle christlichen Heilswahrheiten zu Selbstfindungs-Mythen und -Träumen, nicht ohne freilich im selben Atemzug zu betonen, damit das wahre Wesen des Christentums ans Licht gebracht zu haben. Vielleicht proklamiert ihn die heute noch ein wenig verdrossene Hierarchie in gar nicht so entfernter Zukunft zum Kirchenvater...
Der Traum bzw. der Tiefschlaf hat es nicht bloß der Schriftstellerin Luise Rinser, sondern auch dem Paderborner Theologen angetan: »Eine Denkweise und Lebensform, die patriarchalisch und verstandeseinseitig genug ist, um die Sprache der Frauen, um die Stimmen der Nächte, um die Bilder des Unbewussten in der Alltagslogik männlicher Vernunft gar nicht erst zu beachten, ist in sich selbst ein unausgesetzter Prozess des Ungehorsams gegen Gott und der Hinrichtung dessen, was Gott uns in der Gestalt des Jesus von Nazareth sagen möchte. Wie soll ... eine Theologie, eine Bibelexegese insbesondere, im Raum der Kirche berechtigt sein, die sich strukturell und methodisch außerstande zeigt, auch nur einen einzigen Traum, auch nur ein einziges mythisches Bild, auch nur eine Märchenerzählung ... menschlich zu würdigen und zu verstehen?« Nur in einer »gewissermaßen träumenden Haltung« könne man das Evangelium9 verstehen und auslegen, und gerade die »Machthaber dieser Welt« sollten auf Träume zu hören lernen, »auf die Träume von Frauen insbesondere«.10
Es ist nach diesem momentan bekanntesten katholischen Insider-Theologen »einzig der Empfang göttlicher Träume«, der Ursprung und Leben des Jesus von Nazareth — zumindest in der Version des Matthäus-evangeliums — verstehen lernen lässt. »In einem Traum wird Joseph über die Bedeutung der Schwangerschaft seiner Geliebten aufgeklärt und in das Wesen ihres Kindes eingeführt.«11 Alle wesentlichen Weisungen Gottes an Joseph, den Ziehvater Jesu, die Schutz und Leben seines Ziehsohnes betreffen, ergehen im Traum.
Drewermann sieht darin etwas ungemein Positives: »Der Traum ist ... der Erfahrungsort, da der Engel Gottes einem Menschen erscheinen kann und göttliche Weissagungen sich zu verwirklichen beginnen; ja, die Tatsache selbst, dass es solche Träume wieder (!) gibt, stellt ... nichts Geringeres dar als das Indiz einer Zeitenwende, als das Signal des endgültigen Endes einer Religion der toten Schriftgelehrsamkeit, als den Beginn einer stets erwarteten, doch jetzt endlich in der Person Jesu ermöglichten Form der Innerlichkeit und Gottunmittelbarkeit.«12 Am Anfang war also nicht das Wort, die Vernunft, der Logos. Am Anfang (des Christentums) war der Traum! Das Christentum eine Religion der Träume, eine Traum-Religion!
Das werden nicht alle so positiv sehen wie Drewermann. Die Vorstellung, in allen entscheidenden Lebensphasen nur von Träumen geleitet zu werden, kann nicht nach jedermanns Geschmack sein. Das Traumvorbild der Evangelien, Joseph, kann einem geradezu leidtun. Er erscheint fast wie eine Marionette am Faden der Gottheit. »Das Wenige, was wir von Joseph wissen«, sagt mitleidig Schalom Ben-Chorin, »besteht vor allem in seinem außerordentlich regen Traumleben. Alle entscheidenden Impulse empfängt er durch Träume.«13 Und sobald das Kind Jesus erwachsen ist, löst sich die Traumfigur Joseph wie ein wesenloser Schatten auf. Schon ab dem sechsten Kapitel des Markusevangeliums, ganz zu Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, ist Joseph keiner Erwähnung mehr wert, ist Jesus nur noch »der Sohn Marias« (Mk. 6,3). Wir machen uns heute nicht mehr klar, was es für orientalische Verhältnisse bedeutete, die Herkunft eines Menschen nur durch die Mutter, nicht durch den Vater zu kennzeichnen. Wurde der Vater bei so etwas übergangen, stellte das eine schwere Beleidigung für ihn dar, auch wenn nach jüdischem Gesetz für die Abstammung die Mutter zählt. Auch der Tod Josephs wird in keinem der vier Evangelien einer Erwähnung für würdig befunden. Er tritt von der Bühne des Lebens ab, ohne dass einer der Evangelisten darüber auch nur ein Wort verliert. Ist der »Traum-Mann« vielleicht nur eine Kunstfigur, von den Evangelisten eingeführt, um das ganze Hin und Her um die dunkle Herkunft Jesu noch mehr zu verschleiern?
Bedenkt man, dass die entscheidenden Urfakten des beginnenden Christentums auf Träumen und Halluzinationen basieren — auf den Träumen des hl. Joseph bezüglich der übernatürlichen Zeugung des Gottessohnes im Leib Marias und auf den Visionen der Auferstehung Jesu durch Maria Magdalena und andere Frauen —, dann steht es um die Anfänge dieser Religion, historisch-kritisch und erkenntnismäßig gesehen, nicht gut. Sie sind dann zwar zugegebenermaßen sehr phantasievoll, aber auch reichlich phantastisch und unglaubwürdig. Doch teilt das Christentum diesen Befund mit allen anderen Offenbarungsreligionen. Es gibt nirgendwo ein beweiskräftiges Kriterium für die Echtheit einer göttlichen Offenbarung am Entstehungspunkt von Religionen.
1 Zit. nach Ranke-Heinemann, Hamburg 1992, 51.
2 Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. V, 1954, 828, Anm. 21.
3 K. Galling (Hg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 31959, Bd.111, 1068.
4 Zu dem, was sonst noch so alles an Glaubens- und Kultelementen vom Heidentum übernommen, geschluckt, getauft und christianisiert wurde, vgl. Mynarek, Erster Diener Seiner Heiligkeit, Alsdorf 2019 (Neuausgabe im NIBE-Verlag), 228-233.
5 Zit. bei K.H. Deschner, Abermals krähte der Hahn, Düsseldorf 1980,79.
6 Joseph Kardinal Höffner in »Ruhrwort«, 4.7.1987, 11.
7 Vgl. das Kapitel »Der Kardinal und die Frauen« in mei¬nem Buch »Erster Diener Seiner Heiligkeit«.
8 J. Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1968, 225.
9 Drewermann meint hier besonders das Matthäusevangelium. Drewermann wird von mir als Insider-Theologe bezeichnet. Er ist zwar mit Erreichen des Pensionsalters aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil er sah, dass ihn die Kirche in diesem Alter nicht mehr mit einer Professur beschenken werde. Aber bis heute schreibt er die meisten seiner Bücher im katholischsten Verlag Deutschlands, dem Herder-Verlag, und sowohl Drewermann als auch die Kirche erwähnen beide gar nicht mehr die für sie unangenehme Nachricht von seinem Kirchenaustritt.
10 Drewermann, Jesus, therapeutisch gesehen, in: J. Thiele (Hg.), a.a.O. 194f.
11 Ebd. 194.
12 Ebd.
13 Schalom Ben-Chorin, Mutter Mirjam, München 1982
- Erscheinungsdatum: 16. November 2019